Interview mit Christian Bartholl, Pfarrer der Christengemeinschaft
In der Zeit zwischen dem alten und dem neuen Jahr liegt es nahe, dass wir zurückblicken. Was ist im letzten Jahr in der Welt geschehen? Gab es erfreuliche Entwicklungen, Vorbildliches, Erschreckendes, Zerstörung? Was habe ich persönlich damit zu tun? Wir alle haben zu verantworten, wie es mit uns und der Erde weitergeht. Welche Vorhaben möchten wir alleine und auch in Gemeinschaft in Zukunft realisieren?
Interviewpartner: Christian Bartholl wurde in Stade geboren, 2006 als Pfarrer geweiht, 5 Jahre war er tätig in München und seit 8 Jahren in Hamburg-Volksdorf. Seit 2 Jahren trägt er Verantwortung für die Christengemeinschaft Norddeutschland. Er war im früheren Beruf Grafik-Designer und arbeitete für Zeitschriften- und Buchverlage.
Christine Pflug: In den Gemeinden der Christengemeinschaft werden am 31. Dezember Sylvesterpredigten gehalten. Was macht so eine Sylvesterpredigt aus?
Christian Bartholl: In der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr neigt man dazu, eine Rückschau zu halten, auch für sich persönlich: Wo stehe ich in meinem Leben und was wird mir das nächste Jahr bringen? Was war substanziell im letzten Jahr? Ich versuche, auf einer gesellschaftlichen Ebene die wichtigen Motive des Jahres zu finden und zum Inhalt der Sylvesterpredigt zu machen. So ein Rückblick könnte auch eine andere Form haben, in manchen Gemeinden trifft man sich und tauscht sich gemeinsam aus.
P.: Auf was blicken Sie in 2019 zurück?
Bartholl: Mir ist als eindrückliches Bild die Waldbrände im Amazonas-Gebiet geblieben, stellvertretend dafür, wie wir heute mit der Erde umgehen. Auch in den Jahren davor war das ein wichtiges Thema, aber es spitzt sich immer mehr zu. Man merkt, wie groß die Zerstörung der Welt und ihrer Ressourcen ist. Man könnte auch sagen: Die Erde brennt! Und die Art und Weise, wie wir heute in unserer Zivilisation leben, ist auch eine übermäßige Verbrennung von Rohstoffen. Wenn man auf den Körper schaut, findet da auch Verbrennung statt: Wie verbrennen Nahrungsmittel, damit wir leben können. Man könnte sagen: Damit überhaupt geistiges Leben und Zivilisation entstehen kann, muss Verbrennung sein, aber es werden so viele Ressourcen aufgebraucht, dass für später nicht mehr viel übrig bleibt. Das Gleichgewicht geht verloren.
C. P.: Nun hängt ja in Brasilien der Amazonas-Brand, der immer noch nicht gelöscht wird, mit der dortigen Regierung zusammen, die allerdings demokratisch vom Volk gewählt wurde. Immer mehr rechtsradikale Regierungen sind in 2019 an die Macht gekommen. Auch das ist ein Symptom.
die Zerstörung der Ressourcen und politisch gesehen die Vereinzelung
C. Bartholl: Diese „Verbrennung“ wird nicht dafür eingesetzt, dass mehr heilender Geist entsteht, zu dem auch die Menschheit beitragen kann, sondern es steht Egoismus dahinter: „Mir soll es gut gehen, und wie es dem anderen geht, ist mir egal“ – das ist die Grundgeste, die man an vielen Stellen der Welt sieht. Insofern hängt das eine Phänomen mit dem anderen zusammen. Auf der einen Seite steht die Zerstörung der Ressourcen, auf der anderen Seite politisch gesehen die Vereinzelung, und wir schaffen es nicht, etwas für die Gemeinschaft entstehen zu lassen. Es ist z. B. traurig, wenn man die Wahlergebnisse im Herbst 2019 im Osten anschaut: Eine Gesellschaft driftet auseinander; viele fühlen sich nicht verstanden, und andere können es nicht richtig hören. Auch das ist ein Grundproblem: Wir können nicht richtig hinhören. Die Frage ist: Wie können wir eine vertiefte Form des Hinhörens üben, einmal im persönlichen Kontakt, aber auch im Größeren?
In der Politik haben wir eine Form der Diskussion: Ein Argument kommt auf das nächste, und der mit den scheinbar besseren Argumenten gewinnt. Häufig ist es so, dass dann ein großer Teil der Bevölkerung sich darin nicht wiederfinden kann. Das führt zu Spaltungen. Statt Diskussion sollte der Dialog geführt werden. Im Dialog geht es darum, den anderen wirklich zu verstehen und gut zuzuhören.
C. P.: Damit wären wir bei den Wünschen für die Zukunft. Welche Ereignisse fanden sie in 2019 noch bemerkenswert?
Menschen stehen ein für ihre Sache und übernehmen Verantwortung!
C. Bartholl: Zusammenhängend mit dem übermäßigen Verbrauch von Ressourcen ist die Fridays-for-Future-Bewegung entstanden. Junge Menschen sind so erschüttert von dem, was sie von Wissenschaftlern an Zukunftsszenarien hören, dass sie sich zusammengetan haben. Die Erde verwandelt sich in einem rapiden Maße so, dass die jungen Menschen nicht mehr sehen, wie sie darin ihr Leben gestalten können.
Ein weiteres Schlaglicht des letzten Jahres ist die Kapitänin der Seawatch, Carola Rakete. Daran finde ich interessant, wie jemand aus einer persönlichen Betroffenheit handelt und das auf eine sehr selbstbewusste Weise. Sie ist sehr jung, hat eine große Verantwortung, tut, was getan werden muss, um Menschenleben zu retten und fragt nicht nach den politischen und juristischen Bedingungen. Das macht mir Mut: Menschen stehen ein für ihre Sache und übernehmen Verantwortung! Und sie sind bereit, die Konsequenzen zu tragen, was in ihrem Fall nicht einfach ist. In anthroposophischen Zusammenhängen würde man das als eine michaelische Qualität bezeichnen: Ich sehe, was passiert, handle aus einem Selbstbewusstsein heraus und stehe dann dafür ein.
Dieses Prinzip vervielfältigte sich dann
C. P.: Ähnliches kann man auch von Greta Thunberg sagen …
C. Bartholl: Ein Ursprung ihres Erfolgs war, dass sie sich ganz einsam vor den schwedischen Reichstag hingestellt hat und auch die Konsequenzen, die vom Fehlen im Unterricht kommen, auf sich genommen hat. „Dies hier ist wichtiger, als die Konsequenzen, die ihr mir androht.“ Dieses Prinzip vervielfältigte sich dann auch bei den anderen Schülern.
C. P.: Ist der Brexit auch ein Phänomen der beschriebenen Vereinzelung?
C. Bartholl: Der Brexit ist der Ausstieg Groß Britanniens aus der europäischen Union. Die europäische Gemeinschaft hat sich gebildet, weil sie gemeinsam für Europa einstehen will, eine gemeinsame Außen- und Wirtschaftspolitik gestalten möchte, die starken Länder sollen die förderungsbedürftigen Regionen unterstützen – es ist ein Gemeinschaftsprojekt. Großbritannien will sich herausziehen, weil es ihnen mehr um den eigenen Vorteil in der Welt geht.
In diesem Sinne sollten wir Gemeinschaften anstreben.
C. P.: Wie sehen Sie als Pfarrer der Christengemeinschaft die Wege, aus diesen schwierigen Situationen heraus zu kommen?
C. Bartholl: Das Heilmittel würde darin liegen, eine neue Verbindung zur geistigen Welt aufzubauen, um von dort die Impulse zu bekommen. Dafür gibt es das Bild des „Salavator Mundi“, Christus als der Heiler der Welt.
Wenn wir wollen, dass die Christus-Impulse in der Welt wirksam werden, dann müssen sich Gemeinschaften bilden, damit ein Gefäß entstehen kann für die Inspirationen aus der geistigen Welt. Diese Gemeinschaften können zum Beispiel Gemeinden sein. Wir kennen das: Wenn mehrere, die sich gut abgestimmt haben, zusammen arbeiten, entsteht mehr, als wenn nur ein Einzelner etwas tut. In diesem Sinne sollten wir Gemeinschaften anstreben.
C. P.: Fridays-for-Future hat das praktiziert …
C. Bartholl: … und zwar sehr erfolgreich, es ist ja eine riesige Gemeinschaft. Eine kleinere Gemeinschaft ist sinnvoll, um wirklich neue Impulse in die Welt zu holen und zu entwickeln; das Hinhören auf das, was entstehen will, gelingt besser. Obwohl weniger Menschen beteiligt sind, können sie gute Ideen finden. Je größer eine Gemeinschaft ist, desto komplexer werden die Gemeinschaftsbeziehungen untereinander. Das Wahrnehmungsorgan großer Gemeinschaften ist dadurch diffuser.
C. P.: Was müssen diese Gemeinschaften haben, damit die beschriebene Spaltung aufhört?
C. Bartholl: Die Menschen in der Gemeinschaft sollten die Fähigkeit haben hinzuhören. Und dieser Freiraum, der dann entsteht, sollte von Sicherheit und Vertrauen geprägt sein. Wenn man so eine Gemeinschaft hat, z. B. erlebe ich das in Evangelienkreisen, kann ein Gedanke „in der Mitte entstehen“. Man hat dann das Gefühl, dass das nicht mehr der eigene Gedanke ist, sondern dass er wie in diesen Raum hinein „gebeten“ wurde. Dazu gehören bestimmte Fähigkeiten, z. B. jemanden ausreden lassen, zuhören, am Thema bleiben und nicht ein neues hineinbringen. Das muss natürlich immer wieder geübt werden. Wir machen es uns in der Gemeinde bewusst, dass wir auf diese Weise miteinander reden wollen, und es sind bestimmte Regeln, an die man sich hält. Beispielsweise gibt es solche Techniken, dass jeder eine gewisse Zeit zur Verfügung hat und die anderen hören konzentriert zu.
In der Gemeinde haben wir den Vorteil, diese Dinge ausprobieren zu können. In anderen Kontexten ist es viel schwieriger, sich auf bestimmte Formen des Gesprächs zu einigen. Ich sehe darin auch eine gesellschaftliche Aufgabe nicht nur bei der Christengemeinschaft, sondern auch in anderen Gemeinschaften, solche neuen Formen auszubilden.
das Bild des „Salavator Mundi“, Christus als der Heiler der Welt
C.P.: Salvator Mundi – der Heiler der Welt. Wie genau ist das zu verstehen in Hinblick auf die Zeitlage?
C. Bartholl: Es gibt ein Bild, das da Vinci zugeschrieben wird: Es ist der Christus abgebildet, der in der linken Hand eine Weltenkugel hält und mit der rechten Hand den Christusgruß zeigt. Es gibt aber auch verschiedene andere Künstler, die den Salvator Mundi gemalt haben.
Wir erleben, dass die Welt in Unordnung geraten ist und Krankheitssymptome trägt, im Sinne der Zerstörung der Erde. Und die Frage ist: Wie kann Gesundung eintreten? Was soll heil werden? In der Anlage der Welt, so wie die Schöpfung begann, wurde der Mensch von Gott getrennt – so ist es in der Paradiesesvertreibung geschildert. Zuvor hatten sich die Menschen mit der Gottheit eins gefühlt, und dann sind sie aus dieser Einheit herausgefallen. Wir haben seitdem eine Sehnsucht nach der Einheit, wir fühlen uns getrennt, einsam und leben nicht in einem guten Zusammenhang mit der Welt. Wie können wir diese Trennung überwinden? Durch Liebe und indem wir auf den anderen zugehen. Diese Art der Liebe beschreibt Erich Fromm in seinem Buch „Die Kunst des Liebens“. Es geht darum, dass ich den anderen nicht überwältige oder einvernehme, sondern das Wesen des anderen respektiere. Auch symbiotische Beziehungen sind keine Liebe, weil sie den anderen nicht frei lassen.
Wie können wir auch das, was als Geistiges in der Welt lebt, so einbeziehen, dass es heilend wirksam ist? Die Ursache für das, was wir heute erleben, ist eine immer größere Geistferne, weil wir zunehmend nur auf die Materie schauen.
C. P.: Wie kann die Verbindung mit dem Geistigen entstehen?
C. Bartholl: Das Christuswesen ist deshalb auf die Erde gekommen, weil er in seinem Leben der Menschheit zeigen wollte, wie diese Verbindung mit der Gottheit wieder entstehen kann. Gott wird Mensch, damit die Menschen sich in Freiheit weiterentwickeln können und eine neue Vereinigung mit der göttlichen Welt erreichen können. Das eine Bild, von dem wir kommen, ist das Paradies, und das Bild, wohin wir uns entwickeln sollen, ist das himmlische Jerusalem. Durch eigene Entwicklung gibt man Bausteine für das himmlische Jerusalem. Und die bedeutendste Lehre des Christus ist die Liebe. Wenn wir Gemeinschaften bilden, die inspirationsfähig sind, können wir aus der geistigen Welt Impulse holen, die uns helfen, an dieser aus dem Geist gebauten Stadt zu bauen.
C. P.: In der Christengemeinschaft wendet man sich direkt an den Christus als den Heilenden. Es gibt aber viele Gemeinschaften, die auch das Wohl des Ganzen im Blick haben, z. B. Greenpeace, BUND oder andere NGO´s – sind die auch von dieser Kraft inspiriert, auch wenn sie das nicht so nennen würden?
Das Christuswesen ist eine Energie, eine Kraft, die sich in den Prozessen des Lebens ausdrückt.
C. Bartholl: Das Christuswesen ist eine Energie, eine Kraft, die sich in den Prozessen des Lebens ausdrückt. Er zeigt sich auch in Situationen, die nicht seinen Namen tragen, aber diese Energie wird spürbar.
Es gibt ein Grundprinzip, nach dem auch die Menschenweihehandlung angelegt ist. Am Anfang ist die Verkündigung (Lesung einer Evangelienstelle), dann kommt die Opferung, ein Öffnungsprozess. Wenn ich in einer Krisensituation stehe, brauche ich zuerst die Bereitschaft, mir diese Situation anzuschauen und mir meine Hilflosigkeit zuzugestehen – das ist der Beginn der Öffnung. Denn da, wo ich keine Frage habe, kann sich auch keine Verwandlung bilden. Das ist die Grundlage dafür, dass dann eine Wandlung geschehen kann – es kann etwas hinzukommen, was über die eigenen Kräfte hinausgeht. In diesem nächsten Schritt der Wandlung verbinden sich die menschliche und die göttliche Hingabe. Im letzten Schritt, in der Kommunion, bekommt man die göttliche Antwort.
C. P.: Wenn man das auf die alltäglichen Verhältnisse bezieht – könnte man sagen, dass man vor einer scheinbar ausweglosen Situation steht, wie z. B. die Jugendlichen von Fridays-for-Future, in der man nicht mehr weiter weiß, dann sich dieser Ohnmacht stellt und durch diese Offenheit eine inspirierte Antwort bekommt, die man wiederum mit anderen teilt?
Diese zweite Schöpfung entsteht dadurch, dass sich Menschen verabreden und so miteinander umgehen, dass sie inspirationsfähig werden in sozialer und kultureller Form.
C. Bartholl: Das wäre der ideale Weg. Natürlich können wir auch als Einzelne so einen Prozess beschreiten: Was bin ich bereit, in meinem Leben zu ändern? Wenn man die Umweltsituation als Beispiel nimmt, muss man Altgewohntes loslassen, damit etwas Neues möglich wird. Es ist immer ein guter Weg, mit kleinen Schritten bei sich selbst anzufangen. Und doch ist es so, dass einerseits jeder Einzelne etwas tun kann, aber es braucht Verabredungen in einer Gemeinschaft. Sie werden im Rechtsleben geregelt, aber zuvor braucht es das Gespräch, und zwar einen gesellschaftlichen und politischen Dialog.
Wenn man das Ziel der Entwicklung der Welt in ein Bild bringt, so ist es ihre freie Gestaltung in Liebefähigkeit. Ein spirituelles Leben, die Entwicklung von Kultur, Musik, Kunst, das Gestalten des sozialen Miteinanders hilft, diese Prozesse zu entwickeln. Kultur ist ja letztlich, dass man gemeinschaftliche Prozesse und die Umgebung so gestaltet, dass sie das Wohl von allem einbezieht. Dazu gehört auch, mit was man sich umgibt, wie die Städte aussehen, wie die sozialen Prozesse in diesen Städten gestaltet werden usw. – das wird in Zukunft immer wichtiger werden.
Das erste Urbild in der Bibel ist ein Naturbild, nämlich das Paradies. Das Bild der zukünftigen Entwicklung ist eine Stadt, also ein Kulturgebilde, nämlich das neue Jerusalem. Gott hat in der ersten Schöpfung die Welt geschaffen, jetzt geht es um die zweite Schöpfung, die durch die Menschheit geschieht. Diese zweite Schöpfung entsteht dadurch, dass sich Menschen verabreden und so miteinander umgehen, dass sie inspirationsfähig werden in sozialer und kultureller Form.