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Wie stelle ich mich in diese krisenhafte Zeit?
Interview mit Tabea Hattenhauer, Pfarrerin der Christengemeinschaft
Wir leben in einer bedrohlichen Zeit. Klimawandel, Kriege, es wird in allen Ländern aufgerüstet, es stehen Wahlen an, die keine gedeihlichen Folgen versprechen; besonders bei Jugendlichen zeigt sich, dass sie die Pandemie nicht verkraftet haben, die KI könnte uns überrollen, die Ressourcen gehen dem Ende zu – um nur einige Beispiels zu nennen. Das kann zu Ängsten führen, man kann das wiederum alles verdrängen oder ignorieren.
Wie geht man damit um und stellt sich dazu? Welche Hinweise kann die Religion, das Christentum, dazu geben?
Interviewpartnerin: Tabea Hattenhauer, geb. Gössling, ist in Berlin in einer großen Musikerfamilie aufgewachsen. Sie besuchte dort die Waldorfschule und studierte zunächst Architektur. Später folgten eine Ausbildung am Waldorflehrerseminar und ein Studium am Priesterseminar der Christengemeinschaft in Hamburg. Seit 2010 ist Tabea Hattenhauer als Religionslehrerin tätig, 2017 wurde sie Pfarrerin der Christengemeinschaft. Ihre erste Berufserfahrung sammelte sie in Blankenese, seit 2018 arbeitet sie in der Markus-Gemeinde in Hamburg-Harburg. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.
Christine Pflug: Wie erleben Sie in Ihren Begegnungen und Gesprächen, wie Menschen mit der derzeitigen Lage umgehen?
Tabea Hattenhauer: Ja, die Weltlage ist auf vielen Ebenen eine bedrohliche geworden. Wir sprechen von einer Polykrise und meinen damit, dass es nicht nur eine einzelne Krise gibt, sondern dass sich momentan viele Bedrohungen und Probleme überlagern. Es ist schon schwer genug vorherzusagen, wie sich ein einzelnes Problem in der Zukunft entwickeln wird. Wenn aber mehrere Krisen sich durchdringen und gegenseitig beeinflussen, macht es das Ganze natürlich unendlich kompliziert und verwirrend.
In dieser Situation leben wir aber jetzt! Die Probleme auszublenden ist vorübergehend ganz gesund. Wenn ich mich unausgesetzt mit allen Krisen der Welt konfrontiere, werde ich das vermutlich nicht lange aushalten. Dieses umfassende Bewusstsein können nur höhere geistige Wesen ertragen. Den Engeln ist dies möglich und von Christus, dem Gottessohn, wird von Johannes dem Täufer gesagt: „Er ist es, der die Sündenlast der Welt trägt.“ Sündenlast ist ein altes, zunehmend unverständliches Wort, aber unsere heutigen Krisen sind letztlich menschengemacht. Wir werden konfrontiert mit den Folgen unserer Taten, und das ist sehr unangenehm.
Kürzlich sagte eine Frau zu mir: „Die Welt ist so kompliziert und bedrohlich geworden, ich konzentriere mich lieber auf meinen kleinen familiären Alltag, das schaffe ich gerade noch!“
Erschöpfung und Überforderung betreffen wohl die meisten von uns, bereits Schüler und Schülerinnen klagen darüber. Mir scheint, dass das viel mit der allgemeinen Beschleunigung zu tun hat, mit der Überfülle an Informationen, die wir kaum filtern können und mit der ständigen Erreichbarkeit.
die Probleme entflechten
C. P.: Welche kleinen Zwischenschritte oder vorübergehende Haltungen könnte man finden?
T. Hattenhauer: Hilfreich finde ich es, die Probleme zu entflechten. Es gibt etwa den „freundlichen Krisenpodcast“ der ZEIT: „Auch das noch?“, in dem mit Fachleuten einzelne Krisenthemen vertiefend besprochen und am Ende des Gesprächs bereits vorhandene Lösungsansätze vorgestellt werden. Dieser Ansatz scheint mir wegweisend zu sein. Die Probleme auszublenden kann kurzfristig zu seelischer Gesundheit beitragen und wird ja auch von uns allen immer wieder praktiziert, sei es beim Arbeiten im Garten, Lachen mit Freunden, in der Meditation. Wird dieses Ausblenden aber zum Dauerzustand, den ich durch vermeidendes Verhalten wie Konsum, Ablenkung oder eine vereinfachende Weltsicht aufrechterhalte, so verliere ich als Mensch meine Gestaltungsmöglichkeiten und werden Opfer der Geschehnisse.
Aber ohne Gestaltungsmöglichkeiten, ohne Zugriff auf die Welt, geht die Hoffnung verloren, drohen Abstumpfung und Depression. Wir haben das als Menschheit in der Corona-Pandemie erlebt, was es mit uns macht, wenn Dinge geschehen, die wir nicht beeinflussen können: Wenn die freudig erwartete Klassenfahrt ersatzlos gestrichen, das Treffen mit Freunden verboten, die geplanten Veranstaltungen abgesagt werden. Wir haben aber auch gemerkt, wie schnell sich Unsicherheit und Angst in einer Gesellschaft ausbreiten können, wenn noch nicht klar ist, wie sich die Dinge entwickeln werden.
Die Menschen sind bekanntlich sehr verschieden damit umgegangen, teils ruhig und rücksichtsvoll, teils übervorsichtig und sehr ängstlich, teils über die Sorgen und Bedürfnisse der Mitmenschen hinweggehend unter Berufung auf die eigene Freiheit. Diese verschiedenen Weltsichten gingen und gehen quer durch Kollegien, Gemeinden, Familien und haben oft zu einem Verstummen geführt. Da der andere sich nicht überzeugen lässt, ist es wohl besser, das schwierige Thema zu meiden.
Nur leider scheint es immer neue Themen zu geben, die uns als Gesellschaft spalten. Als die Wogen um die Pandemie sich begannen zu glätten, tauchte die Frage auf, ob es gerechtfertigt sei, Waffen in die Ukraine zu liefern, und nun scheint es – nicht nur an amerikanischen Universitäten – unklar zu sein, ob man Israel oder die Palästinenser unterstützen soll. Immer geht es um ein Pro oder Contra. Wir werden dazu gedrängt, Position zu beziehen, und dabei ist die Lage doch zumeist kompliziert, vielschichtig und unübersichtlich!
die Apokalypse als großes Gemälde der Weltentwicklung lesen
C. P.: Haben Sie für unsere heutige Situation einen theologischen Hintergrund – die Apokalypse … ? Im letzten Jahrhundert hatten wir ja bereits verheerende Zustände, die man als apokalyptisch bezeichnen kann …
T. Hattenhauer: In der Apokalypse wird in teils erhabenen, teils dramatischen Bildern geschildert, wie die Menschen mit den Folgen ihrer Taten konfrontiert werden. Wir können die Apokalypse (die Offenbarung des Johannes, also das letzte Buch der Bibel) als großes Gemälde der Weltentwicklung lesen, das sich sowohl auf vergangene Kulturepochen, auf die krisenumwölkte Gegenwart, wie auch auf die Zukunft der Menschheit bezieht.
Bezeichnend finde ich dabei, dass zwischen den dramatischen Ereignissen, die in der Apokalypse über die Menschheit hereinbrechen, immer wieder der Blick frei wird auf den Thron im Himmel, auf das Lamm als Bild für den Christus, auf die anbetenden und opfernden Engel und auf die Menschenseelen, die auf Erden viel durchlitten haben und dennoch ihr Seelenkleid (ihre weißen Gewänder) reinwaschen konnten, durch innere Entwicklung, durch ihre Verbindung zum Göttlichen.
Immer ist beides gleichzeitig da.
Dadurch wird deutlich, dass immer beides gleichzeitig da ist: Das Schwere, Bedrohliche, Beängstigende und das Heilige, Erhabene, Vollkommene. Denn die Apokalypse endet nicht mit den Schreckensbildern, sondern mit der lichtvollen Stadt, die sich aus dem Himmel herniedersenkt. In dieser Stadt leben die Menschenseelen, die sich zum Guten durchgerungen haben.
Als Johannes diese geistige Schau der Apokalypse hat, die er später aufschreibt, ist er selbst ein Gefangener auf der Insel Patmos. Er hat miterlebt, wie sich nach Tod und Auferstehung des Jesus Christus, nach Himmelfahrt und Pfingsten die Ereignisse bedrohlich überschlagen haben: Jerusalem wurde im Jahr 70 n. Chr. von den Römern erobert, der Tempel dem Erdboden gleich gemacht (bis auf die Klagemauer, an der auch heute noch gebetet wird), und die Schüler des Christus wurden verfolgt, inhaftiert und zum Teil getötet. Auch er hat also in einer Welt gelebt, in der vieles zusammenbrach.
C. P.: Welche Hilfen, innere Haltungen aus dem Christentum, der Bibel, gibt es? Wie kann man mit all dem umgehen – wie sich dazu stellen?
T. Hattenhauer: Das Neue Testament beschreibt das Leben von Jesus Christus, dem Gottessohn, der Mensch geworden ist, um am eigenen Leib zu erleben, was es bedeutet, ein verletzliches und sterbliches Wesen zu sein. Er ist bewusst immer wieder zu den Menschen gegangen, die es schwer hatten, die ausgegrenzt wurden, krank waren und ohne Hoffnung. Er hat ihnen vom Himmelreich erzählt, von der Welt des Ewigen, Unvergänglichen, von einer lichten Liebewelt. Aber auch er musste sich immer wieder zurückziehen, um neue Kraft zu schöpfen. An vielen Stellen im Evangelium heißt es: „Jesus ging auf den Berg“. Er zog sich zurück in die Einsamkeit, an einen erhöhten Ort, um sich dort mit seinem himmlischen Vater zu verbinden. So gestärkt konnte er wieder unter die Menschen treten, um ihnen Kraft und Zuversicht zu spenden.
Ich glaube, auch wir brauchen Rückzugsorte, um wieder in unsere Mitte zu kommen. Das kann ein Ort in der Natur sein, eine künstlerische Tätigkeit, in die wir ganz eintauchen, der Besuch eines Konzertes, oder die innere Versenkung in Meditation oder Gebet. Diesen inneren Ort kann ich aber auch in einer vollen S-Bahn finden, indem ich mich ganz für den Moment und die Mitmenschen öffne: Plötzlich scheint die Zeit still zu stehen, ich sehe den Staub im Licht der Morgensonne, die das Abteil durchströmt, während der Zug über die Elbe fährt. Und ein tiefer Frieden, eine Verbundenheit mit all den fremden Menschen kann mich durchströmen.
Auch Bücher haben die Kraft, uns Orientierung und Halt zu geben. Plötzlich kann uns aufgehen, dass wir mit den Fragen und Sorgen um die Gegenwart nicht allein sind. Und wir erfahren: Da gibt es andere Menschen, die die Welt vielleicht ähnlich erleben wie wir und deren Weltsicht kann uns trösten und den eigenen Horizont erweitern. So beschreibt etwa Natalie Knapp in ihrem Buch: „Der unendliche Augenblick. Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind“, dass wir im Leben immer wieder Umbrüche erleben, die uns verunsichern, weil wir noch nicht wissen, wie es nach der Krise weiter geht, sei es bei der Geburt eines Kindes, in der Pubertät, in den Wechseljahren, oder wenn wir mit dem Tod konfrontiert werden.
Wie können wir lernen, uns im Wenigen zu beheimaten, das Überflüssige loszulassen, zu verabschieden?
C. P.: Vermutlich müssen wir uns von einigem verabschieden, z. B. von dem derzeitigen Wohlstand (was kein Politiker sagen will). Wie kann man auf gute Weise etwas verabschieden?
T. Hattenhauer: Unser ganzes Wirtschaftssystem ist auf Wachstum angelegt, und die Methoden der Werbung, die uns zu immer weiteren Anschaffungen verleiten, werden immer perfider. Durch die Menge an gesammelten Daten werden unsere Vorlieben analysiert, und wir bekommen genau die Produkte vorgeschlagen, bei denen wir schwach werden. Und das alles scheint unserem Wohlergehen zu dienen…
Auf der anderen Seite wissen wir, wie gut es sich reist mit leichtem Gepäck, wie glücklich wir uns fühlen im Lieblingspulli, wie wenig wir eigentlich brauchen. Doch es ist so schwer, dieses Wissen umzusetzen, uns nicht wieder und wieder mit Konsum und Bequemlichkeit abzulenken, zu belohnen, zu betrügen. „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als das ein Reicher eingeht in das Himmelreich!“ heißt es im Evangelium.
Wie können wir lernen, uns im Wenigen zu beheimaten, das Überflüssige loszulassen, zu verabschieden? Als Jugendliche habe ich gestaunt, was sich in den Häusern der Erwachsenen so alles ansammelt. Nun bin ich selbst in der Lebensmitte und merke, wie viele Dinge wir anschaffen und aufheben in dem unbewussten Bestreben, unserem Leben Schönheit, Dauer und Stabilität zu verleihen. Der Philosoph Byung-Chul Han beschreibt in seinem Buch „Vom Verschwinden der Rituale“ wie sehr wir uns in dieser schnelllebigen, unvorhersehbaren Welt nach Stabilität sehnen. Wir wollen uns beheimaten, wollen uns mit Vertrautem umgeben, um Halt zu finden. Daher rührt wohl die Angst vor dem Loslassen, vor dem Verzichten.
Aber ich bin voller Dankbarkeit gegenüber den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die uns schon vorleben, wie wenig wir eigentlich brauchen. Und die zeigen, dass es viel mehr Halt gibt, auf das Zwischenmenschliche zu setzen, auf das Netzwerk der Gemeinsamkeit, in dem ich tauschen und leihen kann, statt zu sammeln und mich abzugrenzen.
Ich glaube, der größere Respekt der Jugend gegenüber den Tieren und Pflanzen ist ein Schritt in eine größere Verbundenheit, in der deutlich wird, dass wir alle Teile eines großen Ganzen sind. Ich nenne dieses Ganze die Gottheit. Aber Sie nennen es vielleicht anders… Schließlich hat Gott allein im Islam 99 Namen. Entscheidend ist doch, dass wir beginnen einander zuzuhören und bemerken, dass unsere verschiedenen Ansichten sich ergänzen zu einer viel größeren Einheit.
In einem Gedicht von Rilke spricht dieses allumfassende Gotteswesen zum Menschen:
„Lass dir Alles geschehn: Schönheit du Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land, das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gib mir die Hand.“