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Die Kraft der „Überflüssigen“
Interview mit Kai Ehlers, Autor, zu seinem gleichnamigen Buch
„Wir leben in einer paradoxen Zeit: In einer Welt des Überflusses und der globalen Entgrenzung werden immer mehr Menschen als „überflüssig“ bezeichnet oder fühlen sich sogar selbst so. Ein globaler Verwertungsprozess reißt uns aus unseren lokalen familiären, wirtschaftlichen und geistigen Verankerungen und spuckt uns am Ende als menschlichen Müll wieder aus. Schauen wir genau hin: Die „Überflüssigen“ sind nicht das Problem, das entsorgt werden müsste – sie sind die Lösung …“
Kai Ehlers, (Jg. 1944) studierte Deutsch, Publizistik, Theaterwissenschaft, beendete das Studium 1968 und war ab 1970 als politischer Journalist in der außerparlamentarischen Opposition (APO) und ihren Organisationsnachläufern tätig. Seit Anfang der Achtzigerjahre richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die Sowjetunion/Russland, sehr bald dann auf die Folgen, die Perestroika für Russland und über Russlands Grenzen hinaus hat. Heute forscht er nach Alternativen zur Globalisierung neoliberalen Typs und setzt sich praktisch für deren Verwirklichung ein.
Christine Pflug: „Die Kraft der ‚Überflüssigen’“ – was hat Dich dazu gebracht, über dieses Thema ein Buch zu schreiben?
Kai Ehlers: Es gibt verschiedene Gründe, aber ein sehr wichtiger Grund entstand aus dem Gespräch mit meinen inzwischen erwachsenen Kindern, die mich im Laufe ihres Heranwachsens mit der Frage konfrontiert haben, wie man in dieser Welt zurecht kommen kann, in der eigentlich schon alles da ist. Eine Welt, in der alles vorgefertigt ist, in der sie sich auf einen Knopfdruck hin in vervielfältigter Form als Face-Book-Kopien der Umwelt mitteilen, angesichts der Tatsache, dass zwar Werte propagiert werden, aber diese sichtbar auf allen Ebenen mit Füßen getreten werden. Ich habe versucht zu antworten: Ihr müsst die Welt, in der ihr Euch so fühlt, dass ihr eigentlich gar nicht gebraucht werdet, in der junge Leute, wenn sie ausgebildet sind, keinen Arbeitsplatz finden oder ausgebeutet und verbraucht werden, nicht nur als Druck begreifen, sondern als Aufforderung und Chance , gemeinsam mit anderen neue Wege zu suchen, Wege, die über die bisher eingeschlagenen hinausgehen und auch über die Art der Gesellschaft, in der ihr euch heute befindet.
C. P.: Diese jungen Menschen würden nach Deinem Verständnis dann auch zu den „Überflüssigen“ gehören?
Kai Ehlers: In ihren Fragen tauchte häufig die Formulierung auf, wofür sie denn überhaupt da seien: es will mich doch keiner, es fragt mich keiner, was mache ich, wenn ich keinen Platz finde usw. Man kann sich dem unterwerfen und sagen: Es ist doch alles so schrecklich und wir sind alle überflüssig, und die 7 Milliarden Menschen auf der Erde sind morgen 9 Milliarden usw., am besten wäre ich gar nicht geboren worden …..
wo kann ich mich verwirklichen, wo kann ich leben und wovon kann ich leben?
C. P.: Wer würde, außer diesen jungen Menschen, noch zu diesen „Überflüssigen“ gehören?
Kai Ehlers: Als langjähriger Russlandforscher habe ich im Blick, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion einen großen Raum hinterlassen hat, wo Menschen zurückgeblieben sind, die bis dahin einen Lebensinhalt hatten, der auf einmal nicht mehr da ist. Außerhalb der Sowjetunion ist das mehr ein ideologisches Thema, aber innerhalb von Russland ist das eine konkrete soziale Frage geworden, d. h. Menschen, die in gesicherten sozialen Verhältnissen lebten, haben sich plötzlich in zerstörten sozialen Verhältnissen und Beziehungen wiedergefunden. Sie waren ihrer sozialen Wurzeln beraubt, die Helden der Arbeit von gestern waren plötzlich die Idioten von heute. Das reichte hin bis zur DDR. Es ist ein großes weltweites Phänomen mit Ausstrahlung, quasi wie Ringe im Wasser, in den letzten 25 Jahren, bis hin zu dem, was wir als arabische Rebellion kennen; da treten auch viele Menschen mit der Frage auf: wo ist mein Ort, wo kann ich mich verwirklichen, wo kann ich leben und wovon kann ich leben? Die arabischen Revolten werden mehrheitlich von jungen Menschen getragen, die in ihren Gesellschaften keinen Platz finden, die aber an der Zukunft teilnehmen wollen und an der globalisierten Welt, in der Werte, Bedürfnisse und Konsumangebote überall vermittelt werden. Wir bewegen uns in diesem Widerspruch, dass Bedürfnisse und Möglichkeiten entstanden sind, aber „ich kann daran nicht teilnehmen“.
In Deutschland wurde durch die Hartz IV-Entwicklung eine Situation geschaffen, in der der Sozialstaat in einer Art und Weise eingeschränkt wurde, so dass heute ein Heer von Menschen gehalten wird, die keine Arbeit haben und auch keine neue finden. Andererseits können sie von dem, was sie vom Staat erhalten, auch nicht leben und werden dabei zudem so kontrolliert und eingeschränkt, dass sie sich auch nicht entwickeln können.
im Süden Europas wird das Modell vom Wachstumsstaat erkennbar infrage gestellt
Hartz IV ist ja nur die Spitze hier in Deutschland. Wenn man in den Süden Europas schaut, wird das Modell vom Wachstumsstaat erkennbar infrage gestellt, in Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, in besonderer Weise auch Zypern. Das rückt auch uns immer näher.
Das sind im Prinzip revolutionäre Bedingungen.
C. P.: Würdest Du auch diejenigen dazuzählen, die heute früher berentet sind?
Kai Ehlers: Die gehören mit dazu, ebenso wie die Teilzeit- oder Kurzzeitarbeiter, oder die sog. Aufstocker. Das sind Menschen, die so wenig verdienen, dass sie von der Sozialbehörde ein klein bisschen dazu bekommen. Die alle zusammen, auch die geschönten Arbeitslosenzahlen, machen 8-9 Millionen aus.
Das ist ein weiterer Aspekt, der mich zu der Frage führte: Was sind das für Menschen? Wo kommen die her – bei allem Gerede von Vollzeitbeschäftigung etc.? Welche gesellschaftliche Funktion haben sie? Um welches Phänomen handelt es sich?
C. P.: … und wo kommen sie her?
K. Ehlers: Ich nenne das Buch: Die Kraft der „Überflüssigen“; ich achte darauf, die Anführungsstriche immer zu setzen und nicht zu vergessen. Sie weisen auf eine Argumentationslinie seit Beginn der Industriealisierung hin, die im frühen England mit dem britischen Ökonom Thomas Robert Malthus begonnen hat. Er meinte, die Produktivkräfte wüchsen langsamer als die Bevölkerung, d. h., die Bevölkerung vermehre sich schneller als die Produktivkräfte und die Möglichkeiten sie zu ernähren seien nicht gegeben – „Der Tisch ist nicht für alle gedeckt“ – so seine Formulierung. Er behauptete auch, dass man das mathematisch berechnen könne. Diese Argumentationslinie liefe heute darauf hinaus, dass die Welt 7 Milliarden Menschen nicht ernähren könne. Aber die Wirklichkeit ist eine andere! Niemand ist real und biologisch „überflüssig“, es geht vielmehr um die Frage, wie die Arbeit und das Leben organisiert wird.
Es war Karl Marx, der ungefähr 100 Jahre nach Malthus diesem entgegentrat mit der ganz klaren Feststellung:
die Produktion läuft so, dass die Arbeitskräfte, die in sie hineingezogen werden, so produktiv sind, dass sie sich damit tendenziell überflüssig machen
Es handelt sich nicht um „Überflüssige“, sondern um „überflüssig“ gemachte, d. h., die Produktion läuft so, dass die Arbeitskräfte, die in sie hineineingezogen werden, so produktiv sind, dass sie sich damit tendenziell überflüssig machen. Der Anteil des „toten“ Kapitals, also z. B. Maschinen usw. wird immer größer gegenüber dem lebendigen Kapital, d. h., den Arbeitskräften bzw. Menschen. Es wird immer weniger lebendiges Kapital gebraucht, aber gleichzeitig wird dieses menschliche „Kapital“ in einem Zustand gehalten, dass es jederzeit zusätzlich zur Verfügung steht, wenn die Produktion gesteigert werden soll, oder kann. Marx nannte das die industrielle Reservearmee. Sie wird zugleich als Druckmittel gegen diejenigen benutzt, die schon Arbeit haben: „Wenn du es nicht machst, dann warten noch Tausende“.
Dieser Prozess der Überflüssigmachung, wie er schon von Marx beschrieben wurde, hat heute globale Maßstäbe angenommen.
Dazu gibt es eine Skizze: Schema des globalen Verwertungswolfes (im Buch Seite 22)
Die Menschen bleiben als „Überflüssige“ zurück, und zwar sowohl an der Basis, wo Subsistenzen und lokale Wirtschaften zerstört werden, z. B. durch eingeführte Produkte wie Gemüse aus Holland oder Artikel aus China, so dass sie mit ihrer bisherigen Wirtschaftsform nicht mehr klar kommen und in den Produktionsprozess reingerissen werden. Ein Teil von ihnen kommt allerdings erst gar nicht in den Verwertungswolf hinein, sondern bleibt gleich entwurzelt zurück.
Bei diesem Prozess geht es nicht mehr um Tausende oder Zehntausende, sondern um Millionen Erwerbslose.
Zu all dem kommt noch das globale Bevölkerungswachstum, die sog. Überbevölkerung von 7 Milliarden Menschen. Im Prinzip ist von einer absoluten Überbevölkerung gar nicht mehr die Rede, weil die Kurve tendenziell runter geht, aber es gibt ein relatives Problem, dass von manchen Demographen „heiß gekocht“ wird, nämlich die unterschiedliche Entwicklung von Norden und Süden – Schrumpfung auf der nördlichen Erdhalbkugel, Wachstum im Süden.. Diese Disproportion wird hochgerechnet zu einem gewaltigen Problem des Jugendüberschusses im Süden, dem man irgendwie begegnen müsse.
wo ist mein Ort, wenn die Technik schon alles weiß?
Ein weiterer Punkt des sich „überflüssig“ Fühlens oder Werdens, das ich hier nur andeuten möchte, ist die Beziehung zur Technik. Meine Kinder haben die Frage gehabt: Wo ist mein Ort, wenn die Technik schon alles weiß? Die Roboterisierung setzt physische Arbeitskraft frei, Computer schaffen eine künstliche Intelligenz, die weit über die menschliche Leistungsfähigkeit hinausgeht.
C. P.: Viele junge Menschen suchen heute ihren Berufsplatz im Bereich der Informationstechnik, weil sie in unmittelbar in den Herstellungs- und Produktionsprozessen nicht mehr gebraucht werden …
Kai Ehlers: Zum Beispiel wollte mein Sohn gerne ein Zimmermannspraktikum machen, richtig anpacken und mit Holz arbeiten. Stattdessen sah er sich plötzlich der Situation gegenüber, dass er nur noch Fertigbauteile zusammensetzten sollte. Er war tief erschüttert. Da ist mir das Phänomen zum ersten Mal so scharf begegnet.
es werden Kräfte freigesetzt
Die Bestandsaufnahme all dieser Fakten beunruhigt natürlich. Ich hatte aber keine Lust, noch ein weiteres Krisenbuch auf den Markt zu bringen, in dem dies alles nur aufgezählt wird. Mein Ansat ist ein anderer: Was bedeutet diese Entwicklung? Man muß die Paradoxie erkennen: Was subjektiv als Problem oder als Not erfahren wird, bis dahin, dass sich HartzIV-Empfänger und –Empfängerinnen umbringen, ist von der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung her Ausdruck eines großen Reichtums. Die Produktivkräfte der Menschheit haben sich so entwickelt, dass zur Erhaltung und Gestaltung ihres Lebens immer weniger unmittelbare physische Arbeitskraft gebraucht wird – anders gesagt, Kräfte freigesetzt werden.
C. P.: Und wie geht man mit diesem frei gesetzten Potential um?
K. Ehlers: Das ist eben das Thema, dass die frei gesetzten Kräfte nicht frei gelassen werden, sondern bewusst, systematisch, mit autoritären und völlig undemokratischen Methoden wie Hartz IV kontrolliert und an ihrer Entwicklung behindert werden. Diese industrielle Reservearmee globalen Ausmaßes unter Kontrolle zu halten, ist das Hauptproblem, das die herrschenden Kräfte heute haben. Es liegt auf der Hand, dass da etwas entsteht, was seiner Natur nach explosiv ist und geeignet ist, die bestehenden Verhältnisse zu zerreißen, sei es mit Gewalt oder sei es als Alternative. An diesem Punkt stehen wir heute.
Für jeden Einzelnen, aber auch für die Gesamtsituation kann gesagt werden: die freigesetzten Kräfte können die Menschen befähigen sich mit anderen Dingen beschäftigen. Die Freigesetzten können aber auch auf den Müllhalden oder in Slums verkümmern, zu Dieben, Mördern, Terroristen werden …
C. P.: … oder hinter der Schnapsflasche landen
K. Ehlers: Die herrschende Strategie geht an das Problem heran, wie man die „Nützlichen“, d. h. für die Produktivität des Kapitals wichtigen, aussortieren kann und den Rest „still legen“ kann. Das unschöne Wort für das Aussortieren heißt: selektieren; für das Stiilegen heißt es Tittytainment: Titty- steht für das Durchfüttern und -tainment für das Unterhalten der übrigen 80 Prozent der Bevölkerung, um diese ruhigzustellen. So, wie dem schreienden Säugling die Brust gegeben wird, sollen die für die Güterproduktion überflüssigen Menschen mit trivialer Unterhaltung (Fernsehen, Internet usw.) davon abgehalten werden, die gesellschaftlichen Zustände in Frage zu stellen.
Besondere Strategien werden für das Problem der Disproportion der globalen Bevölkerungskurven im Norden und im Süden entwickelt, die zur „Bedrohung“ der Zivilisation erklärt werden. Zum einen wird erklärt, dass man den Menschen im Süden eine eigene Wirtschaftssituation ermöglichen solle, indem man das nördliche Modell des entwickelten Kapitalismus dorthin transportiere. Diese Strategie hat allerdings Haken: erstens hat eben diese Wirtschaftsweise zu den Problemen geführt, die wir heute haben, zweitens läßt sich unsere Wirtschaftsweise, die auf der Ausbeutung abhängiger Länder aufbaut, nicht exportieren – es sei denn, daß das Prinzip der Ausbeutung durch Verschuldung in Frage gestellt wird. Dann ist es aber schon nicht mehr unsere jetzigen System.
Als realistischere Variante wird deshalb diskutiert, dass dafür gesorgt werden müsse, dass sich die sog. „Überflüssigen“ gegenseitig in Schach halten, also Unruhen in Ländern mit „Jugendüberschuß“ entstehen oder solche Länder sich gegenseitig bekriegen, wie das z.B. im Irak und Iran vor 15 Jahren der Fall war. Millionen von jungen Menschen sind dabei „verheizt“ worden. Wenn ein Land mit „Überflüssigen“ auf Grun seiner technischen Möglichkeiten den zivilisierten Ländern gefährlich werden könne, müsse ihm präventiv der Krieg erklärt werden. (siehe dazu Gunnar Heinsohn, Terrorforscher aus Bremen: „Söhne und Weltmacht“) Ein typisches Beispiel dafür ist der Irak: auch hinter den arabischen Ereignissen läßt sich dieses Muster erkennen. Die US-Politik folgt diesem Muster seit Jahren entlang ihrer erklärten Interventionsstrategie.
es wird präventiv dafür gesorgt, dass überhaupt nichts „Überflüssiges“ geboren wird
Gleichzeitig denken die hochentwickelten Industriestaaten, wozu auch Deutschland gehört, darüber nach, wie sie eine gesunde, sprich arbeitsfähige Bevölkerung erhalten oder gewinnen können, d.h., keine Kranken oder Schwachen einwandern lassen; Stichwort: Sarazin, der sich nicht schade genug war, das zum Thema zu machen. Dieses Senken zieht weiterhin ein Gesundheitsverständnis nach sich, bis hin zur Präimplantationsdiagnostik, welches das noch nicht mal gezeugte Leben bereits gesund machen will. Es werden Visionen entwickelt und ins Alltagsbewußtsein der Bevölkerung eingespeist, die eine Eugenik auf neuem Niveau ist. Die neue Eugenik zielt nicht mehr auf Tötung, sondern auf Verhinderung „überflüssigen“ Lebens. Das ist eine ganz andere Stufe: vorgeburtlich, nicht mehr nachgeburtlich, nicht mehr, töten, was schon da ist, sondern präventiv dafür sorgen, dass überhaupt nichts „Überflüssiges“ geboren wird.
C. P.: Und wie kommt man nun aus dieser ganzen Misere raus?
K. Ehlers: Wir haben es mit einem gesellschaftlichen Reichtum zu tun, der über tausende von Jahren entstanden ist, wir haben Produktionsmittel entwickelt, die uns alle in die Freiheit setzen, nicht mehr jeden Tag um unser physisches Überleben kämpfen zu müssen.
die Arbeit anders organisieren, die Produkte anders verteilen
Die Frage, wie man da herauskommt, hängt damit zusammen, wie Arbeit anders organisiert wird und Produkte anders verteilt werden. Aus Sicht der Herrschenden besteht die Gefahr, dass das zu einer Explosion führen und die herrschenden Verhältnisse in einer blutigen Revolte wegfegen könnte. Das ist natürlich auch für sonst niemanden wünschenswert. Auf der anderen Seite begegnen sich auf der ganzen Welt viele Menschen in alternativen Lebenssituationen.
„Die Wiederentdeckung der Allmende“
C. P.: Welche Beispiele solcher Alternativen gibt es?
K. Ehlers: Es hat sich etwas entwickelt, was als die „Wiederentdeckung der Allmende“ bezeichnet wird. In vielen Ländern finden sich Gemeinschaften zusammen, in Indien, in Ägypten, in Südamerika – überall gibt es kleine Kommunen. In Deutschland gibt es über 300 registrierte Gemeinschaften unterschiedlichster Art, dazu Ökodörfer etc. In den letzten 10 bis 20 Jahren hat sich eine Art Subkultur entwickelt.
Mit der Allmende-Diskussion, die sich seit ca. 10 Jahren herausgebildet hat, bekommt diese Subkultur theoretische Perspektiven. 2009 bekam Elinor Ostrom, die ein Leben lang mit ihrem Team an dem Thema Allmende geforscht hat, dafür den Nobel-Preis in Ökonomie, übrigens die erste Frau auf diesem Sektor. Sie hat mit ihrer Forschung der subkulturellen Gemeinschaftsbewegung eine neue Qualität verschafft. Im Rahmen dieser Diskussion muss man genau hinschauen: Was ist eine Allmende wirklich? Was kann sie heute sein? Eine Allmende ist die Bewirtschaftung begrenzter Ressourcen durch eine Anzahl von Individuen, die sich zusammenschließen um diese Ressource kooperativ zu bewirtschaften; sie tragen die Pflege und auch den Nutzen der Bewirtschaftung. An die Regeln hält man sich durch Selbstverpflichtung zur gegenseitigen Hilfe, und auch sanktioniert man sich gegenseitig, wenn die Regeln nicht eingehalten werden. Allmenden können nur funktionieren, wenn sie ihren eigenen Regeln folgen dürfen; sobald der Staat mit seinen Regeln oder auch ein Geldgeber eingreift, funktioniert die Eigenverantwortung nicht mehr.
C. P.: Mit diesen Themen von Selbstverpflichtung, gegenseitiger Sanktionierung etc. stößt man immer wieder auf das Problem: Es gibt Leute, die halten sich nicht daran.
K. Ehlers: Stimmt, nur kann man daraus keine Welterklärung machen. Es gibt ebenso viele Beispiele in der Geschichte – inzwischen auch von Elinor Ostrom und anderen reichlich dokumentiert – in denen Menschen sich an die zwischen ihnen vereinbarten Regeln halten – und dies interessanterweise ohne dass der Staat oder ein Geldgeber sie dazu zwingt. Es ist aber sicher trotzdem noch ein langer Weg zu Entwicklung eines zeitgemäßen Allmendebewußtseins zu gehen.
C. P.: Wie kann man sich diesen Weg vorstellen, auf dem durch viele Generationen hindurch dieser Prozess der Allmende entwickelt werden soll?
die Initiative liegt beim einzelnen Menschen
K. Ehlers: Das läuft durch ein Paradoxon: Bei den vielen Millionen „Überflüssigen“, die wir heute haben, könnte man meinen, daß die Dynamik aus der Masse kommt. Aus der Masse kommen aber erfahrungsgemäß nur ungerichtete Revolten oder spontane Eruptionen. Eine wirkliche Veränderung kann nur vom Einzelnen ausgehen, die Initiative liegt beim einzelnen Menschen. Sie kommt nicht vom Staat, nicht vom Privatkapital, sondern aus dem konkreten Interesse des Einzelnen, der oder die sich zur Verwirklichung seines oder ihres Interesses selbst und mit anderen organisiert. Erneuerungen kommen immer aus der Minderheit. Es geht um das Interesse zu überleben, aber nicht nur ein physisch, sondern auch moralisch, kulturell – nur auf diesem Weg kann etwas passieren. Irgendwelche Appelle werden nichts bringen.
Revolte hat nur einen Sinn, wenn man mit anderen kooperiert
C. P.: Und irgendwelche moralischen Ermahnungen werden auch nichts bringen …
K. Ehlers: Es handelt sich nicht um einen moralischen Vorgang, sondern darum, jedem Menschen das Recht zuzubilligen, dass man sich versorgen muss. Zu begreifen ist, dass Revolte nur einen Sinn hat, wenn man mit anderen kooperiert. Schließlich muss das in einer richtigen Abwägung der Beziehungen geschehen, die wir auch zu anderen Teilen der Welt haben, auch gegenüber den Tieren, mit denen wir leben, und auf der anderen Seite auch mit den Maschinen, die wir gemacht haben. Sich da als Mensch zu finden, ist ein wesentlicher Bestandteil des Weges. Mit dem platten, vordergründigen Materialismus, der nur von heute bis morgen denkt und jegliche geistige Substanz leugnet kommt man nicht weiter. Man muss die Frage nach dem Wesen des Menschen stellen: Wir müssen uns als der bewusste seelische Bestandteil der heute sich entwickelnden Maschinenwelt und der sich entwickelnden Tierwelt begreifen. Die Tiere können besser hören, besser laufen, besser sehen und die Maschinen können alles noch viel besser. Was können wir besser als die Tiere und besser als die Maschinen? Darum geht es letzten Endes. Da kann man auch anknüpfen an der heutigen Wissenschaft, die interessanterweise den platten Materialismus überwunden hat – genau genommen sind es die Physiker, solche wie Hans Peter Dürr und andere. Sie knüpfen heute an altem Wissen an, etwa an Laotse. Die Biologen sind noch nicht auf diesem Level. Also, es geht darum, dass wir uns in dieser sehr komplizierten Situation als Menschen wieder neu finden – einen anderen Weg gibt es nicht. Wenn wir uns besinnungslos den Maschinen übergeben, sind wir verloren.
Kai Ehlers: Die Kraft der „Überflüssigen“ – Der Mensch in der globalen Perestroika. Pahl-Rugenstein Verlag