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Die Christengemeinschaft in der Zeit des Nationalsozialismus
Interview mit Frank Hörtreiter, Pfarrer der Christengemeinschaft
Die Christengemeinschaft wurde 1941 durch das NS-Regime verboten. Was waren die Gründe dafür? Belegt das schon eine Gegnerschaft gegenüber dem Nazi-Regime? Lavierten sich manche durch die Gefahren hindurch? Wie verhielten sich die Gemeindemitglieder und die Pfarrer gegenüber den Juden, bzw. den verfolgten Menschen? Und wie positioniert man sich heute, wenn der Neo-Nationalsozialismus wieder verstärkt auftritt?
Frank Hörtreiter hat in ausführlichen Recherchen bisher kaum verfügbaren Materials zusammengetragen und zugänglich gemacht: Korrespondenzen, Biographien, Lebenserinnerungen, Chroniken und Teile des internen Priesterrundbriefes und mit diesen Grundlagen ein Buch geschrieben.
Interviewpartner: Frank Hörtreiter, geb. 1944, Studium der klassischen Philosophie und am Priesterseminar der Christengemeinschaft. Seit 1969 verheiratet, seit 1970 Priester, er war über 16 Jahren Öffentlichkeitsbeauftragter der Christengemeinschaft. Tätig als Pfarrer in Hamburg von 1970-1973 und 1996-2006, dazwischen 23 Jahre in Hannover und in Stuttgart; die letzten 15 Jahre wieder in Hannover; seit 6 Jahren emeritiert. Autor der Studie „Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus“ und „Die Christengemeinschaft – Skizzen aus hundert Jahren“.
(Im Interview wird das Wort Christengemeinschaft mit dem Kürzel CG ersetzt. Anm. d. Red.)
Christine Pflug: Sie haben im Herbst 2021 das Buch „Die Christengemeinschaft in der Zeit des Nationalsozialismus“ publiziert, nach etwa 10 Jahren Arbeit mit intensiven Recherchen.
Frank Hörtreiter: Ich hätte mir dieses Buch nicht vornehmen können, wenn ich nicht zuvor die Korrespondenz des Priesterkreises seit 1921 bearbeitet und zu einem Stichwortregister verarbeitet hätte. In diesem sog. Priesterrundbrief wurden und werden auch heute noch sämtliche Themen behandelt, die die Pfarrer intern miteinander austauschen – ungeschminkt, ungeklärt und auch mit der Freiheit zum Unsinn. Insofern könnte man auch sagen, dass ich mit dem Inhalt des Buches beschäftigt bin, seit ich Priester bin.
C. P.: Beginnen Sie doch erstmal mit den Fakten: Wie war damals die Situation? Was ist passiert?
Wir wurden von den Nationalsozialisten als Feinde betrachtet.
F. Hörtreiter: Die Christengemeinschaft war nach Rudolf Steiners Geschmack viel zu spät begründet worden; er hatte offensichtlich die Inflation und andere Schwierigkeiten der 20er Jahre vorausgesehen. So war die Christengemeinschaft 1933 erst elf Jahre alt und ziemlich klein. Wir wussten, dass wir von den Nationalsozialisten als Feinde betrachtet werden, aber wir hatten auch Vorteile. Die Nationalsozialisten pflegten eine gewisse Spießigkeit, waren teilweise traditionsverhaftet und gingen deshalb den Kirchen nicht so gerne ans Leder. Kernpunkt des Nationalsozialismus war die Hochschätzung der Gemeinschaft anstelle der individuellen Freiheit – nach dem Slogan „Du bist nichts, dein Volk ist alles“; der zweite Punkt: „Die Juden sind an allem schuld“, der dritte „Deutschland ist gedemütigt und geknechtet, ist ein Opfer und muss endlich mal auftrumpfen“. Das waren die Gesinnungen, die Nationalsozialisten miteinander geteilt haben, aber sonst war eine gewisse Bandbreite möglich. Die Christengemeinschaft war für manche Nationalsozialisten attraktiv.
C. P.: Warum war sie für Nationalsozialisten attraktiv?
F. Hörtreiter: Weil sie so stark vom Gemüt und der Seele geredet hat. Und weil sie gesagt hat, dass sich die Kirchen vom Staat raushalten sollten, keinen politischen Einfluss haben und sich unabhängig machen sollten von einer Zentralbehörde, wie beispielsweise die römisch-katholische Kirche in Rom.
C. P.: Trotzdem muss es Gründe gegeben haben, dass die Nazis die CG ablehnten. Wie kam es dazu?
F. Hörtreiter: Die Mehrzahl der Nazis waren Gegner der CG, weil sie mit der Anthroposophie verbunden war, und weil sie die Ausgrenzung von Nicht-Deutschen und Andersrassigen ablehnte; und die Position der CG war: Wir haben einen Individualismus zu vertreten, der jeden Staat kritisiert, der die Gesinnung seiner Bürger gängeln möchte.
C. P.: Wie hat sich das in den faktischen Ereignissen widergespiegelt?
F. Hörtreiter: Die CG war zahlenmäßig winzig, und die Zahlen führen in die Irre. In jeder anderen Kirche wird man durch die Taufe automatisch als Mitglied verbucht, und bei uns muss man als Erwachsener extra darüber entscheiden, selbst wenn man dort aufgewachsen, getauft und konfirmiert wurde. Insofern hatten wir schon damals und auch noch heute mindestens so viele Leute, die die CG finanziell unterstützen, aber keine Mitglieder sind, wie eben auch Mitglieder, die dankbar sind, dass ihre Kinder im Religionsunterricht sind oder dass die Oma bestattet wird. Deshalb war die formale Mitgliedschaft damals nicht einmal im sechsstelligen Bereich, aber jeder Gebildete hatte sie eigentlich zu kennen und die kirchlichen Spezialisten sowieso.
Außerdem gab es eine Reihe von kuriosen Querverbindungen. Jakob Wilhelm Hauer, ein evangelischer Missionar, der dann in Deutschland ein fanatischer SS-Offizier war, wurde von einem Mädchen aus der Anthroposophen-Familie Schad als Bräutigam abgelehnt. Er war der Überzeugung, wenn er mit blitzenden Augen einer Frau verkündet, sie solle gefälligst ihm gehören, dass sie dann gehorcht. Sie hatte aber statt seiner ausgerechnet einen Gründer der CG geheiratet, nämlich Richard Gitzke. Später hat Hauer immer wieder Telegramme an Hitler und Himmler geschickt, sie sollten endlich nicht nur die Anthroposophen, sondern auch die CG verbieten.
Herrenmensch dulden keinen Rivalen neben sich.
C. P.: Dann ist aus verletzter männlicher Eitelkeit ein Politikum geworden?
F. Hörtreiter: Das darf man sagen, aber verbunden mit dieser vulgär-nietzschehaften Gesinnung, dass ein Herrenmensch keinen Rivalen neben sich zu dulden und dass die Menschen vor ihm in die Knie zu sinken haben.
C. P.: Also waren die CG-Pfarrer im Sinne der Nazis keine Herrenmenschen!?
F. Hörtreiter: Sie haben sogar noch verkündet, dass ein Mann der Partner einer Frau sein sollte und nicht ihr Herr; um mit Nietzsche zu reden, solle er ihr nicht die Peitsche zeigen.
Es gab natürlich auch noch ganz andere Gründe der politischen Ablehnung. Die Anthroposophische Gesellschaft wurde verdächtigt, dass sie mit den Freimaurern zu tun hat, was dem Kern nach nicht stimmt, aber nominell eben doch, d. h. in Ähnlichkeiten der esoterischen Schulung; und die Nazis verdächtigten die Freimaurer, dass sie sowohl mit Rom zu haben wie auch mit dem „Weltjudentum“.
Die CG hat auch von vornerein gesagt, dass man niemanden wegen seiner „Rasse“, wegen seines moralischen Status oder seiner Volkszugehörigkeit ablehnt.
C. P.: Es gibt also einige Gründe dafür, dass sich die CG gegen den Nationalsozialismus abgegrenzt hat. Gab es trotzdem Einzelpersönlichkeiten, die auf die „andere Seite“ gegangen sind?
F. Hörtreiter: Es ist ein wenig in der der CG so, wie es von Selg bei den Anthroposophischen Ärzten herausgearbeitet worden ist: Die Zugehörigen waren zu einem Teil auch NSDAP-Mitglieder. Es gab 10% Parteimitglieder, aber bei den nicht-anthroposophischen Ärzten waren es 40%. Der Anteil war also nicht erschreckend hoch, sondern nur ein Bruchteil. Ähnlich war das bei den Mitgliedern der CG auch, wir wissen es nicht ganz genau. Man kann sagen: Die Priester der CG waren durchweg in keiner einzigen nationalsozialistischen Organisation Mitglied oder Zuträger. Eine teilweise Konformität hängt aber damit zusammen, dass sie sozusagen dem Zeitgeist verfallen waren. Ich kenne eine Stelle in einem Buch von August Pauli, einem herzensguten, patriarchalischen Priester, der gegen den Nationalsozialismus war, aber er riet trotzdem, dass möglichst ein Jude und ein Nicht-Juden einander nicht heiraten sollten – in seiner Schrift, die dann „schönerweise“ auch noch hieß „Blut und Geist“. Das wird uns heute um die Ohren geschlagen, aber man muss sagen, das war der Zeitgeist, ein Erbe des wilhelminischen 19. Jahrhunderts. Insofern gab es Leute, die zeigten Überschneidungen mit dem Nationalsozialismus, und außerdem konnte einem Pfarrer, bei unserer exzessivem Lehr-, Meinungs- und für die Mitglieder Glaubensfreiheit, auch der schwerste Irrtum nicht verboten werden. Aber im internen Rundbrief, wo man ungeschminkt hätte reden können, gibt es nirgends eine auftrumpfende Stelle, wo jemand sagt: Freut euch, ich habe Beziehung zu den Nazis. Andrerseits gibt es Presserundbriefe, von Eduard Lenz ins Leben gerufen, mit denen er ab 1933 aufhörte, weil er wusste, dass die Gestapo unsere Briefe mitliest. Man kann heute auch beweisen, dass er damit Recht hatte. Vor 33 hat er immer wieder gewarnt vor den Nazis und dem Völkischen, die waren eindeutig die Gegner.
Da ist ein Stück Schuld dabei.
C. P.: Die CG hat sich aus einer politischen Positionierung herausgehalten. Das kann andererseits auch dazu führen, keine Verantwortung zu übernehmen. Wie ist das zu sehen?
F. Hörtreiter: Da ist ein Stück Schuld dabei. Wenn wir das heute anschauen, muss man sagen: Die CG ist nicht nur wegen ihrer verzweifelten Kleinheit kein ernstzunehmender Widerständler gewesen, sondern sie war prinzipiell keiner.
Das griffige Bild von Dietrich Bonhoeffer, dass man nicht nur die Menschen, die unter dem Rad der Geschichte verwundet werden, verbinden, sondern dass man dem Rad in die Speichen greifen solle, ist ein gutes und moralisch vertretbares Prinzip. Das haben wir nicht befolgt. Insofern war Bonhoeffers Erstaunen und Betroffenheit berechtigt, dass ausgerechnet die friedliche Christengemeinschaft, die nun wirklich dem Staat nicht zur Gefahr wurde, 1941 verboten wurde.
C. P.: Kann man also sagen, dass es solche Helden wie Dietrich Bonhoeffer auch nicht hätte geben können?
F. Hörtreiter: So ist es, zumindest was die Priester anbelangt. Unter den Mitgliedern gab es durchaus Helden. Es gab Beziehungen zum Kreisauer Kreis, zur Weißen Rose, zu den Geschwistern Scholl usw. Die CG war zwar klein, aber hatte überproportional viele Beziehungen zu Widerständlern, Traute Lafrenz etc. Trotzdem hat Kurt von Wistinghausen mit einer gewissen Betroffenheit und Offenheit gesagt: Wir waren nicht nur keine Helden, wir waren keine Widerständler. Ein sehr großer Teil der Pfarrer ist nach dem Verbot der CG ins Gefängnis gekommen, sie wurden als Staatsfeinde dargestellt. Da spielten vor allem die Gestapo, SS, Hauer und Himmler eine große Rolle. Aber unsere Gefährlichkeit für den Nazi-Staat wurde von den Nationalsozialisten äußerlich gesehen grotesk überschätzt.
C. P.: Wie haben sich die Priester verhalten?
F. Hörtreiter: Sie haben etwas sehr Problematisches gemacht. Sie gingen davon aus, dass sie verboten werden – schon 1935 war die Anthroposophische Gesellschaft verboten worden. Die Gefahr hat man ab dann stark gesehen, und man hat dagegen gekämpft, es gab Verbote von Tagungen, von Einweihungen von Kirchen, und dagegen hat man protestiert. Wir wollten vor allem, dass unsere Mitglieder und auch die Gemeindefunktionäre verschont werden. Die Pfarrer hatten 1939 an Pfingsten eine Liste rumgeben lassen, wo jeder Pfarrer sich mit seiner Adresse, Telefon usw. eintrug. Die trug man zur Gestapo ans Reichssicherheitshauptamt mit der Maßgabe: Die dürft ihr verhaften, aber keine Mitglieder.
C. P.: Das ist ja eine fürsorgende und mutige Geste.
F. Hörtreiter: Ja, allerdings war auch Erpressung mit im Spiel. Es waren schon etliche Listen von Gemeindemitgliedern an die Gestapo übergeben worden, Abonnenten der Zeitschrift „Die Christengemeinschaft“, württembergischen Gemeindemitgliedern u.ä.. Das waren mehrere tausend Namen. Und Priester wie Lenz und Rittelmeyer, die ein Gefühl für die Gefährlichkeit des Nationalsozialismus hatten, wollten Schadensbegrenzung betreiben: „Wir geben euch die Priester komplett, damit ihr die Mitglieder verschont.“ Und das hat gewirkt. Es ist kein Mitglied wegen seiner Mitgliedschaft, auch keine Gemeindehelferin oder ein Schatzmeister, verhaftet worden. Aber die Priester und Priesterinnen sehr wohl.
C. P.: Diese Verhaftungen waren aber kein KZ, sondern „lediglich“ Gefängnis?
F. Hörtreiter: Das war in der Regel Gefängnis, aber es gab ein halbes Dutzend, die kamen ins KZ Welzheim. Am schlimmsten im KZ war es für Emil Bock, den damaligen Erzoberlenker: Er hatte im ersten Weltkrieg mit einem Nierendurchschuss tagelang im Wasserloch gelegen und wurde im KZ gehalten wie eine Art Faustpfand – bis der Verlag Urachhaus liquidiert und alles Vermögen an die Nazis weitergegeben war.
Andere Priester waren nur Tage oder auch Wochen im Gefängnis, was sie aber zunächst nicht wissen konnten, und standen danach vor der Existenzfrage. Das Vermögen war beschlagnahmt, aus der Gemeinde durfte man ihnen offiziell nichts geben. Sie wurden von Gemeindegliedern durchgefüttert, aber es war für die Pfarrer und ihre Familien eine mickrige Sache. Wistinghausen, Feddersen, Bock vor allem, waren lange inhaftiert.
Es gab aber eine Anzahl von Priestern, die wurden nicht inhaftiert, weil sie sich schon vor dem Verbot gemeldet hatten, um in die Wehrmacht einzutreten. Ob Opportunismus dahintersteht? Es gab aber auch Aussagen „Ein anständiger Mensch hat kameradschaftlich und brüderlich zu sein.“ Es war damals ein hoher Wert: „Wenn die Fahne ruft, dann muss ich hin.“
C. P.: Die sind also nicht zur Wehrmacht, weil sie Nazis waren, sondern aus, heute würde man sagen, Solidarität?
F. Hörtreiter: Ja, außerdem auch wegen vermeintlicher oder echter Fürsorge. Sie dachten: eine junge Bewegung, die so leicht verboten und bedroht werden kann, der kann Schlimmes passieren, wenn die Nazis für sie eines der damals schlimmsten Schimpfworte benutzen, nämlich „Drückeberger“. Sie wollten ihre Mitglieder und Gemeindehelfer schützen. Und es gibt auch Berichte, dass „wohlmeinende“ Polizeibeamte gesagt hatten „Sie wollen doch wohl in die Wehrmacht eintreten!“ Der Unterton hieß, wer in die Wehrmacht eintritt, kommt nicht ins KZ.
Es gab bei uns überrepräsentative Gegnerschaft gegenüber dem totalitären Staat, das ergibt sich ja auch aus dem ganzen Charakter der Christengemeinschaft, aber wir waren nicht gesamthaft Widerständler. Es gab einzelne Helden. Wir haben nie Juden vom Altar weggewiesen und haben auch in nicht so seltenen Einzelfällen mitgeholfen, dass Juden über unsere internationalen Verbindungen Bürgschaften zum Auswandern bekamen in England, Schweden, Amerika usw. Die CG war aktiv darin, den Juden bei der Ausreise zu helfen und hat dadurch sicher manches Leben gerettet. Wir hatten auch eine kleine Gemeinde in Theresienstadt, die miteinander, ohne Priester, auswendig im Kreis die Weihehandlung gesprochen hat. Der Anteil der Anthroposophen in Theresienstadt war nicht klein, auch solche berühmten Persönlichkeiten wie Victor Uhlmann gehörten dazu.
C. P.: Wie ging es dann nach dem Krieg weiter?
F. Hörtreiter: Dass die CG nach 1945 sofort wieder in Gang kam und so lebendig war wie keine andere mir bekannte anthroposophische Tochterbewegung, liegt an verschiedenen Gründen. Sie hat den Nationalsozialismus geistig bewältigt, sie hat aber auch die Kraft gehabt zu sagen: Wenn wir gefoltert werden in der Gefangenschaft, können wir uns damit trösten, dass es Menschen gibt, die, auch im Ausland, an unserer Stelle täglich weiterhin meditieren. Die Kraft, mit der die CG nach 45 sofort da war und es in diesem Jahr hunderte von Konfirmationen gab, hängt damit zusammen, dass die Damaligen autark und gesinnungstüchtig waren in ihrer Gegnerschaft gegenüber dem Nationalsozialismus, aber auch in der deutlichen Positionierung, dass man Christus zu dienen habe und nicht dem Staat.
Und wenn sich heute einer als Nazi outet?
C. P.: Die Zeitlage geht ja wieder in Richtung Rechtspopulismus, Neo-Nationalsozialismus. Wie sehen Sie das? Wie kann man als Einzelner und als CG damit umgehen, wie sich positionieren?
F. Hörtreiter: Heute wie damals: Wenn sich einer als Nazi outet, werden wir ihn nicht rauswerfen. Wir werden ihn aber hindern, dass er innerhalb der Gemeinde seine völkischen Meinungen verkündet. Wir beurteilen die Leute nicht nach ihrer Gesinnung. Ich habe gegenüber dem Nationalsozialismus und auch dem heutigen Neo-Nationalsozialismus eine profilierte Meinung, aber in der Gemeinde sehe ich es nicht als meine Aufgabe an, öffentlich mit Löwenstimme meine Meinungen zu vertreten.
Jede gesellschaftliche Lehre und Bewegung, die das Individuum unterdrückt oder nicht ernst nimmt und das Kollektive über das Individuelle stellt, sehen wir als menschenfeindlich an. Die individuelle Ansicht ist wichtiger als eine Gesinnung, wie sie dem Staat gefällt. Äußerlich gesehen können wir insofern gegen die heutige Lage wenig tun, aber meine Hoffnung ist nach wie vor, dass es wirksam ist, wenn wir den Menschen wirklich deutlich machen, dass die Freiheit zum Irrtum, die man aber individuell verantwortet, besser ist als dass man eine kollektive Meinung vertritt, mit der man Schulterklopfen erreicht. Der Mensch ist im Gegensatz zum Tier kein Gruppenwesen, sondern immer individuell. Das ist auf die Dauer hoffentlich doch so wirksam, dass wir völkische und populistische Bestrebungen kraftloser machen.
Ich würde vermuten, wenn man die Meinungen unserer Mitglieder erheben würde im Vergleich mit der gesamtdeutschen Bevölkerung, würden wir hier und bei Verschwörungstheorien nicht so gefährdet erscheinen. Noch extremer wäre das bei der Pfarrerschaft. Ich finde das gut und ich hoffe, dass sich das noch weiter verstärkt.
Es gibt zwar Neonazis, Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme in der anthroposophischen Szene und auch innerhalb der CG. Die werden wir nicht hinauswerfen, aber es gibt einen ideengeschichtlichen, grundsätzlichen Gegensatz zwischen jeder Art von Dogmatismus, der einer Verschwörungstheorie zugrunde liegt, und der Anthroposophie. Rudolf Steiner ist ohne Meinungsvielfalt und ohne seine 12 Weltanschauungen nicht zu denken. Das ist ein Plädoyer gegen den Dogmatismus. Jemand, der die „eine“ Meinung hat, der hat nicht die Wahrheit, sondern der hat Angst. Derjenige, der beweglich ist und davon ausgeht, dass eine festgefahrene Meinung tot ist, der hat die Chance das zu erreichen, was einen Anthroposophen oder einen – würde ich in meiner idealistischen Haltung behaupten – wahren Christen ausmacht.
Hörtreiter, Frank. Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus. Verlag Urachhaus. Stuttgart 2021.
Hörtreiter, Frank. Die Christengemeinschaft – Skizzen aus hundert Jahren. Verlag Urachhaus. Stuttgart 2025.