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Anthroposophie – eine Zumutung?
Faszination und Hindernisse auf dem Weg zu einer neuen Weltsicht
Gespräch mit Wolfgang Müller, langjähriger NDR-Redakteur, jetzt freier Autor
Die Anthroposophie „hat der Welt etwas Wichtiges, buchstäblich Not-Wendiges mitzuteilen“, so Wolfgang Müller. Andererseits scheint sie für heutige naturwissenschaftlich geprägte Menschen schwer zugänglich zu sein – eine Zumutung. Wolfgang Müller zeigt auf, wie durch die Anthroposophie auf Fragen und Probleme der heutigen Kultur eben durch diese Anstrengung ein Weg zu guten Lösungen gefunden werden kann.
Wolfgang Müller, 1957 geboren, wuchs in Speyer am Rhein auf. Er studierte Geschichte und Germanistik in Heidelberg und Hamburg. Bis 2020 war er Fachredakteur für Zeitgeschichte beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg, wo er jetzt als freier Autor lebt. Seine Artikel erscheinen in anthroposophischen Zeitschriften, gelegentlich auch in taz, Zeit und FAZ. Zuletzt erschien sein Buch »Zumutung Anthroposophie. Rudolf Steiners Bedeutung für die Gegenwart«.
Christine Pflug: Sie sind nicht „anthroposophisch sozialisiert“, also nicht durch Elternhaus oder Waldorfschule an die Anthroposophie herangekommen, und außerdem erst nach einem ganzen Berufsleben in einem anderen Feld, als Redakteur im NDR. Wie war dieser Prozess?
Wolfgang Müller: Die erste Begegnung mit der Anthroposophie war eigentlich doch schon vor über zwanzig Jahren, angeregt durch einen Freund. Damals habe ich auch schon mehrere Werke von Rudolf Steiner gelesen. Aber es hat bei mir nicht recht gezündet. Allein zum Beispiel, wie Steiner die geistigen Welten quasi im Breitwandformat ausmalt, als eine höchst konkrete, vielgestaltige Wirklichkeit, das fand ich eher befremdlich. Es war jedenfalls nicht die Art Spiritualität, die mir nahelag.
C. P.: Und wodurch hat sich das dann geändert?
W. Müller: Da gab es keinen bestimmten Wendepunkt. Aber es war wohl so, dass mir im Lauf der Jahre manche Aussagen Steiners doch wieder in den Sinn kamen und ich sie nicht mehr ganz so abwegig fand. Am deutlichsten war das einmal 2015, als ich über bestimmte politische Fragen nachdachte und plötzlich merkte: deine ganze Denkrichtung läuft auf das hinaus, was Steiner „soziale Dreigliederung“ nannte; also der Gedanke, dass Politik, Wirtschaft und Geistesleben nicht so verfilzt sein sollten wie jetzt, sondern viel freier ihrer je eigenen Logik folgen sollten.
Der Mensch soll dort als blühende, aber eben auch balancierte, gereifte Persönlichkeit ankommen
C. P.: Gab es Widerstände auf diesem Weg?
W. Müller: Äußerlich nicht, außer dass sich wohl manche in meiner Umgebung ein wenig wunderten, dass ich das plötzlich so bedeutend fand. Aber – sollen sie sich halt wundern. Innere Widerstände gab es dagegen eine Menge. Dieses gewöhnungsbedürftige Verständnis des Geistigen – Steiner spricht ja sogar vom „Geisterland“ – habe ich schon erwähnt. Der wichtigste Punkt war aber, dass mir früher immer schien, eine tiefere menschliche Entwicklung bedeute eine Überwindung des Ich, des Individuellen, eine Transzendierung ins Ganze. Dass der Weg ins Ganze gehen soll, würde man wohl auch anthroposophisch sagen, aber ergänzen: Der Mensch soll dort nicht als Neutrum ankommen, sondern als geradezu blühende, aber eben auch balancierte, gereifte Persönlichkeit. Die menschlichen Individualitäten haben also einen Sinn. Dass wir alle so wunderbar verschieden sind, ist keine Verschwendung und kein Fehler, sondern hat eine Weltrelevanz. – So etwa, es ist ja nicht ganz leicht über diese Dinge zu sprechen.
C. P.: Ihr Buch hat den Titel „Zumutung Anthroposophie“. Worin liegt die Zumutung?
W. Müller: Damit ist gemeint, dass die Anthroposophie – wenn man in ihr nicht nur ein spirituelles Geplätscher sieht – eine riesige Herausforderung ist. Sie will ja nicht nur unsere Seele ein bisschen streicheln, damit wir diese kalte Welt besser aushalten, sondern sie zeigt diese Welt selbst in einem neuen Licht. Sie behauptet insbesondere, dass die materielle, sichtbare oder auch mit Experimenten nachweisbare Welt nur ein Teil der Wirklichkeit ist, das heißt: In der sichtbaren Welt ist Unsichtbares, Tieferes wirksam, Steiner nennt es die „geistige Welt“. Und die ist in seiner Wahrnehmung nicht eine Art Extra-Welt oder gar die bessere Abteilung der Wirklichkeit, sondern sie lebt tief in allem, auch in uns selbst, sie spricht sich in der sichtbaren Welt aus.
Natürlich sind das heutzutage, wo alles aufs Greifbare und äußerlich Nachweisbare fixiert ist, keine einfachen Aussagen. Im Buch sage ich mal: Eigentlich geht es den Anthroposophen wie damals den Juden im babylonischen Exil, die von den anderen ausgelacht wurden, weil sie keine so schönen Götterbilder hatten, sondern an einen unsichtbaren Gott glaubten. Das ist natürlich etwas anstrengender. In Psalm 115 kann man das nachlesen.
Der Mensch muss an sich arbeiten
Eine Zumutung ist die Anthroposophie aber auch für die Anthroposophen selbst. Denn sie sagt: Ihr müsst euch überhaupt erst mal vorbereiten, um zu tieferen Erkenntnissen gelangen zu können. Das heißt, der Mensch muss – in aller Bescheidenheit – an sich arbeiten. Das ist der sogenannte „Schulungsweg“. Auf dem wird man schon manche bisherigen Gedanken und Gewohnheiten hinter sich lassen müssen, und es ist nicht immer gemütlich. Auch das ist, wenn man so will, eine Zumutung. Aber eine, die ganz neue Perspektiven öffnet. Man macht das ja nicht aus irgendeinem Masochismus, sondern weil man ahnt, dass dies ein Weg ist, der eine tiefe Begründung hat.
C. P.: Trotzdem kann man ja nicht sagen, dass hundert Jahre nach Steiner Menschen in Scharen diesen Weg gehen…
W. Müller: Oh ja, das stimmt. Darüber kann man lange nachdenken. Und die Sache wird noch seltsamer, wenn man daran denkt, dass manche Steiner-Bücher ja enorme Auflagen erreicht haben. Die „Theosophie“ etwa, die ich als Einstieg gut finde. Oder auch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“. Aber das alles ist eben keine einfache Lektüre, und Steiner hat das auch verteidigt: Er wollte keine geschmeidige Esoterik versprechen, wie man sie heute an jeder Straßenecke findet, sondern die Schwierigkeiten und inneren Hindernisse nicht vertuschen. Diese Hindernisse sind eben groß, wenn man den Übergang schaffen will von den heutigen Denkmustern zu diesen tieferen, ungewohnten Anschauungen. Davon kann ich ja selbst ein Liedchen singen, sogar eines mit ziemlich vielen Strophen.
Ein „Umleben“ wird gefordert
C. P.: Dann könnte man sich fragen, ob die Anthroposophie überhaupt eine Chance hat, kulturell durchzudringen.
W. Müller: Ja, sie wird diese Chance wirklich nur haben, wenn es eine gewisse Anzahl Menschen gibt, die trotz aller Hindernisse erkennen, dass darin etwas wirklich Großes liegt, ungeachtet vieler Unvollkommenheiten, die Steiner selbst gesehen hat. Und wenn Menschen wirklich bereit sind, sozusagen noch mal neu in die Welt zu schauen. Sonst geht es nicht. Es ist ja so: Wir haben alle schon einen Weg hinter uns, mit Elternhaus, Schule, vielleicht Uni und Berufsleben, und wir haben uns auf diesem Weg vieles angeeignet und uns unter Mühen eine gewisse Weltsicht zurechtgelegt. Und jetzt kommt dieser Steiner – im übertragenen Sinn – und rüttelt daran, fordert ein Umdenken, er sagt sogar: ein „Umleben“. Hat man darauf Lust? Es ist wie in einem Spiel, in dem man schon ein gutes Stück mit seiner Figur vorangekommen ist und dann hört man „Zurück auf Los!“. Danke!
In Wahrheit geht man natürlich niemals zurück auf Los, sondern man trägt alles in sich und es nimmt nur eine neue Gestalt an. Aber erst mal ist es eben etwas hart und verstörend. Man könnte sagen, wie bei einer Geburt: kann sehr schmerzhaft sein, aber dann ist da doch ein schönes, süßes Kind.
C. P.: Trotzdem bleibt die Frage: Werden viele das auf sich nehmen?
W. Müller: Seien Sie doch nicht so ungeduldig 😉 Man muss da leider in langen Zeiträumen denken, und das hat Steiner auch getan. Und nicht erst er. Schon bei Lessing gibt es diese ergreifende Stelle, wo er sagt: „Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur lass mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! So viel Seitenschritte zu tun!“
Das heißt natürlich nicht: abwarten und Tee trinken. Denn – das ist noch mal eine andere Seite der Anthroposophie: In ihr steckt eine brennende Empfindung der Dringlichkeit. Ich würde sagen: ein Bewusstsein davon, dass die Menschheit schlimme Dinge durchleben wird, und ja auch schon durchlebt, wenn sie nicht allmählich zu einem reiferen und volleren Verständnis der Wirklichkeit kommt, bis hin zur politischen Wirklichkeit.
„soziale Dreigliederung“
C. P.: Steiners politische Anschauungen sind wenig bekannt. Von Waldorfschulen hat jeder gehört, aber seine Aussagen zur „sozialen Dreigliederung“ kennen nur wenige. Worum geht es da?
W. Müller: Im Kern sagt er: In unseren heutigen Staaten – das ist immer noch so wie zu seiner Zeit – sind viele Dinge auf falsche Weise verknüpft. Wirtschaftliche Interessen etwa wirken an allen Ecken und Enden in die Politik hinein und beeinflussen die dortigen Entscheidungen. Die Politik wiederum greift viel zu stark, viel zu regulierend in das Leben der einzelnen Menschen ein. Steiner fand es zum Beispiel auch falsch, dass der Staat fast das ganze Schulwesen kontrolliert. Das war ja ein Anlass dafür, eine freie Schule zu gründen, die erste Waldorfschule 1919.
Grundsätzlich hat er die Dinge so gesehen: Es gibt drei Sphären der Gesellschaft, die zwar in enger Wechselbeziehung stehen, aber doch – soweit möglich – ihren ureigenen Prinzipien folgen sollten. Da ist zunächst mal das Geistesleben, also Wissenschaft, Kunst und eben auch das Bildungswesen. Da sollte vollkommene Freiheit und Unabhängigkeit herrschen. So fand es Steiner auch falsch, dass Professoren Staatsbeamte sind. Weil das eben doch, auch wenn die Verfassung Forschungsfreiheit zusichert, auf subtilere Weise das Denken beeinflusst. Für die Historiker-Zunft etwa erscheint mir das auch plausibel. Es ist wohl kein reiner Zufall, dass man dort immer das jeweilige politische System gerechtfertigt hat. Das war im Kaiserreich so, und es war selbst in der Hitlerzeit so, wo viele die Lebensraum-Ideologie der Nazis historisch legitimiert haben. In der Bundesrepublik gelten jetzt Westbindung und Anlehnung an die USA weithin als Ziel der Geschichte. Nichts gegen Lernprozesse, aber sie folgen doch verdächtig dem jeweils politisch Erwünschten.
Was den zweiten Bereich, die Wirtschaft, betrifft, war Steiner auch für große Freiheit, aber mit klaren Leitplanken. Kapital, sagt er, darf quasi nur vom jeweiligen Unternehmer genutzt und eingesetzt werden, darf aber nicht vererbt werden, sondern muss dann in die Verfügung von anderen fähigen Frauen und Männern übergehen. Auch das heutige Angestelltenprinzip – dass man im Grunde seine Arbeitskraft wie eine Ware verkauft – fand er unzeitgemäß, nannte es einen Rest von Sklaverei. Betriebe, sagt er, müssen assoziativ organisiert sein.
Und im dritten Bereich, politisch-rechtlich, da muss einfach völlige Gleichheit herrschen. Also, nur um den Kontrast deutlich zu machen: Im Geistesleben sind wir alle durchaus ungleich, und jede und jeder soll das in voller Freiheit entfalten, mit allen Neigungen und Talenten; aber als Staatsbürger stehen wir eins zu eins nebeneinander und müssen völlig gleichberechtigt unser Gemeinwesen gestalten.
Es geht zunächst mal darum, den Blick zu schärfen
C. P.: Klingt trotzdem recht kompliziert.
W. Müller: Ja, das will ich nicht leugnen. Aber vielleicht kann man entspannter rangehen, wenn man begreift: Es geht da nicht um ein Schema oder ein Modell, das jetzt sozusagen „einzuführen“ wäre. Es geht zunächst mal darum, den Blick dafür zu schärfen, wo überall solche Sphären-Übergriffe stattfinden und warum das so schädlich ist. Um ein krasses Beispiel zu nennen: eine islamische Republik. Da greift eben das Geistesleben – in dem Fall die religiöse Orientierung – auf die politische Sphäre über. Ganz falsch. Das Religiöse soll sich frei entfalten, aber auf der politisch-rechtlichen Ebene hat es nichts zu suchen. Auch Kreuze in Gerichtssälen sind nicht ok.
Nicht ok ist auch, wie sehr heute wirtschaftliche Interessen in die Wissenschaft hineinwirken, also wenn man so will ins Geistesleben. Denn selbstverständlich beeinflusst das die Richtung der Forschung, allein schon die Auswahl der Themen und Fragestellungen. Erstaunlicherweise sprach Steiner schon vor hundert Jahren von einer „Wissenschaft, die dem Kapitalismus tributpflichtig ist“. Für bestimmte Projekte bekomme ich als Forscher reichlich „Drittmittel“ aus der Wirtschaft – und für andere nicht. Das ist genauso verzerrend wie die vorhin genannte Dominanz des Staates. Natürlich wäre eine Forschungsfinanzierung, die wirklich eine reine Erkenntnis-Orientierung erlaubt, nicht leicht zu organisieren. Aber das wäre der zweite Schritt. Erst mal müssen die Probleme erkannt werden, und dafür schärft die Dreigliederung das Bewusstsein.
Keine gute Presse
C. P.: Gerade in letzter Zeit, während der Corona-Phase, haben die Anthroposophen keine gute Presse gehabt. Teilweise wurde ihre Weltsicht als obskur und unwissenschaftlich hingestellt, wurde auch die Impf-Skepsis in Teilen des Anthro-Milieus kritisiert. Wie sehen Sie diese Dinge?
W. Müller: Da werde ich mich jetzt nach allen Seiten unbeliebt machen. Also, ich fand tatsächlich, dass die anthroposophische Szene in dieser Krise wenig Überzeugendes geboten hat. Die Verbände und sozusagen eher offiziellen Stimmen haben sich nach meinem Eindruck sehr beeilt zu versichern, dass sie ganz mit der politisch und medial vorherrschenden Sichtweise einverstanden sind, und sie haben nur in Nuancen etwas Distanz erkennen lassen. Umso stärker sind dann Teile des Anthro-Milieus ausgeschert. Da sind manche, scheint mir, ziemlich blind jeder abweichenden Deutung hinterhergelaufen, angefangen mit der Behauptung, dieses Virus existiere gar nicht oder sei völlig harmlos, bis zu der, es sei eine Art Biowaffe, bewusst in Laboren hergestellt, um die Bevölkerung in Angst zu versetzen und dann umso besser kontrollieren zu können.
Was fehlte, war aus meiner Sicht schlicht eine Sorgfalt und Gründlichkeit in der Betrachtung des Geschehens. Im Grunde wäre genau dies ur-anthroposophisch. Aber es hätte eben verlangt, dass man weder einer verengten Virologen-Sicht noch irgendwelchen YouTube-Trends folgt, und auch nicht nur bei Steiner nachschaut, was er über Epidemien und Impfungen sagte, sondern dass man in aller Vorsicht versucht, sich selbst ein Bild zu machen. Dann hätte man wohl erkannt: Ja, dieses Virus ist buchstäblich „virulenter“ als viele andere und auch als die uns vertrauten Influenza-Viren. Andererseits war tatsächlich die apokalyptische Stimmungslage, in die da die halbe Welt hineinrutschte, weit überzogen und hat einen klugen, maßvollen Umgang mit dem Problem sehr erschwert.
Eine nüchternere Herangehensweise hätte auch die Spaltung der Gesellschaft in quasi Linientreue und „Querdenker“ verhindert. Und sie hätte übrigens viel bessere Möglichkeiten eröffnet, anthroposophische Gesichtspunkte sichtbar zu machen. Denn die Anthroposophie hätte unserer heutigen Kultur, die kaum noch einen sinnvollen Umgang mit Krankheit und Bedrohung findet, sehr wohl einiges zu sagen. Etwa darüber, dass die Auseinandersetzung mit Krankheiten eben doch in einem tiefen Sinn zum Menschsein gehört und sich nicht, wie es heute suggeriert wird, völlig ausschalten oder wegimpfen lässt.
Das heißt natürlich nicht, wie es Anthro-Gegner ständig unterstellen, dass man alles mit „Karma“ rechtfertigen und dem Schicksal seinen Lauf lassen möchte. Warum gibt es denn anthroposophische Medizin? Weil man das, was sich tun lässt, auch tun soll, das hat auch Steiner wieder und wieder erklärt. Nur soll man sich nicht auf dieser körperlichen Ebene und einer reinen Angst-Ebene gefangennehmen lassen. Ja, da ist mehr, das ist die gute Nachricht der Anthroposophie. Aber die war leider in diesem wirren Corona-Diskurs – dem öffentlichen und dem anthroposophischen – praktisch nicht mehr hörbar.
Die Anthroposophie hat der Welt wirklich etwas mitzuteilen!
C. P.: Haben Sie die Hoffnung, dass sie mit der Zeit doch hörbarer werden kann?
W. Müller: Eigentlich schon. Aber das verlangt, scheint mir, auch eine Neubesinnung der Anthro-Szene selbst, auch einen größeren Sinn für das gemeinsame Ganze. Dass es in dieser Szene viele besondere Strömungen und Sichtweisen gibt, ist ja völlig normal und schön; man kann nicht das „freie Geistesleben“ fordern und es dann nicht praktizieren. Aber dieses Sektiererische, das ja schon Steiner damals beobachtet hat, das dürfte sich ruhig mal etwas beruhigen.
Vermutlich wird das von allein geschehen, wenn eine zentrale Sache deutlicher als jetzt ins Bewusstsein tritt: Die Anthroposophie hat der Welt wirklich etwas mitzuteilen! Und zwar etwas Wichtiges, buchstäblich Not-Wendiges. Leider ist es zugleich etwas Schwieriges. Es erfordert also große Anstrengung, um diese Perspektive verständlich zu machen und zu zeigen, inwiefern die Anthroposophie Antworten auf Fragen gibt, die tief in unserer Kultur wabern, auch wenn sie vielen Menschen nur halb zu Bewusstsein kommen. Die Anthroposophie kann dafür durchaus Begriffe liefern. Sie bietet keine fertigen Lösungen, das ist wahr. Aber sie öffnet einen Weg zu guten Lösungen. Denn die können nur aus einem tieferen Verständnis der Wirklichkeit hervorgehen, davon bin ich überzeugt.
Ein Gespräch mit Wolfgang Müller, das im Hamburger Rudolf-Steiner-Haus stattfand, findet sich auf YouTube, wenn man das Stichwort „Zumutung Anthroposophie“ eingibt.