Willkommen auf der Seite für Adressen, Veranstaltungen und Berichte aus Einrichtungen auf anthroposophischer Grundlage im Raum Hamburg
Wie bin ich heutzutage Zeitgenosse?
Beiträge von Dr. Christoph Bernhardt, Claudia Schumann, Paula Kiefer, Tarik Ötzkök, Uli Ott
Viele von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, fühlen sich im Leben stehend und haben den Anspruch, an den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen konstruktiv teilzunehmen.
Aber wie kann das in einer Zeit mit vielerlei Krisen auf allen Ebenen – Kriegen und weltweite Aufrüstung, Klima- und Umweltzerstörung, Gefährdung der Demokratie etc. – gelingen? Informiert man sich über das Zeitgeschehen, können sich Gefühle der Ohnmacht, Resignation, vielleicht auch Empörung oder Angst einstellen oder vielleicht ein Rückzug von allem. Wie umgehen mit Ereignissen und Entwicklungen, die bedrohlich sind, aber so weit weg, dass wir nicht Einfluss auf sie nehmen können? Wie kann es gelingen aufrecht zu bleiben, sich zu positionieren und Verantwortung zu übernehmen?
Das sind Fragen, die nicht letztgültig beantwortet werden können. Deshalb habe ich einige Menschen aus dem anthroposophischen Umfeld um einen Beitrag gebeten, welche Ideen sie dazu haben und wie sie individuell mit diesem Thema umgehen.
So sind spannende und inhaltsvolle Beiträge entstanden, aus einem vertieften Verständnis der Anthroposophie, aus dem pädagogischen Alltag mit Schüler:innen; eine Studentin beschäftigt sich damit, wie die Soziale Dreigliederung Wege zu einer gesellschaftlichen Neuerung aufzeigt; ein Pfarrer der Christengemeinschaft schreibt, wie man „zu einem aktiven Zeugen der Zeit und Protagonisten im Menschheitsdrama werden könnte“, eine Mitinhaberin eines Geschäftes, wie „man dort handelt, wo wir Einfluss haben – politisch, gesellschaftlich und im Alltag“. Alle sind sie engagiert, betroffen, um Wege bemüht. Danke!! Ihre Christine Pflug, Redaktion
„Zeitgenosse sein – eine Frage der Erkenntnis und des Willens“
Beitrag von Dr. Christoph Bernhardt, Arzt
Zeitgenosse zu sein ist in der Gegenwart oft keine leichte Aufgabe, da wir vieles im Weltgeschehen nicht direkt beeinflussen können. Dadurch kann sich vielen Ereignissen gegenüber ein Gefühl der Ohnmacht einstellen. Aber die Anthroposophie gibt uns viele Erkenntnishilfen, damit wir die tieferen Hintergründe der Zeiterscheinungen erkennen können. Und diese Erkenntnis kann helfen, die Ereignisse, denen wir sonst äußerlich ohnmächtig ausgeliefert sind, innerlich in Gedanken zu bändigen.
Gedanken sind geistige Realitäten. Negative Entwicklungen umgeben sich oft mit einer Aura der Lüge und Täuschung. Wenn man diese Täuschungen erkennend durchschaut, verlieren diese Kräfte ihre Tarnung und damit zumindest einen Teil ihrer Wirkensmöglichkeit, so wie im Märchen Rumpelstilzchen die Macht über die Königin verliert, sobald diese seinen wahren Namen kennt.
Die technische Entwicklung hat der Menschheit neben vielen Chancen auch viele Risiken gebracht. Interessanterweise hat Rudolf Steiner darauf hingewiesen, dass jeder Erkenntnisfortschritt von einem Fortschritt in der moralischen Entwicklung begleitet sein sollte, ja dass einem Schritt in der Erkenntnisentwicklung drei Schritte in der moralischen Entwicklung vorausgehen sollten. Eine Ursache der vielen Probleme der Gegenwart liegt also darin, dass in den letzten Jahrhunderten die technische Entwicklung schneller voran ging als die moralische Entwicklung der Menschheit.
Schon in Goethes Faust sagt Mephisto voraus, dass der Mensch auf seinem Erkenntnisweg zwar Gottähnlichkeit erlangen wird, wie es ihm schon die Schlange im Paradies versprochen hat, ihm dann aber bei dieser Gottähnlichkeit bange werden wird („Folg nur dem alten Spruch und meiner Muhme, der Schlange, Dir wird gewiss einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange!“). An diesem Punkt stehen wir heute. Wir haben ungeheure, quasi „gottähnliche“ Möglichkeiten. Ein Atomkrieg hätte das Potential, die ganze Erde auszulöschen. Die künstliche Intelligenz wird auf der rein intellektuellen Ebene die natürliche Intelligenz bald überflügeln. Der Transhumanismus träumt von der Erschaffung eines homo deus (Harari), der als unsterbliches und dank KI quasi allwissendes Wesen gottgleich ist. Und zu Recht wird es uns dabei bange, weil diese Möglichkeiten nicht von einer ausreichenden spirituellen und moralischen Entwicklung begleitet werden, die der Gefahr ihres Missbrauchs vorbeugen könnte.
Aber bei dieser Bangigkeit müssen wir nicht stehenbleiben. Denn wir können uns mit Hilfe der Anthroposophie um ein vertieftes Verständnis dieser Phänomene bemühen.
Nach den Schilderungen Rudolf Steiners macht die Menschheit in der Gegenwart einen Bewusstseinswandel durch, indem sie unbewusst über eine Bewusstseinsschwelle geht. Ein solcher Schwellenübertritt bedingt, dass der Mensch dabei mit dem Spiegelbild seines Wesens, das ihm alle seine unvollkommenen Seiten zeigt, konfrontiert wird. Die Ereignisse der Außenwelt zeigen uns also nichts anderes als ein Spiegelbild der Kräfte, die auch in unserem Innern leben. Wir erkennen das in uns lebende Zerstörungspotential einer kalten, empathielosen Intellektualität heute vielfach in den Wirkungen der aus diesen Seelenkräften hervorgehenden technischen Entwicklungen. An dieser Erkenntnis können wir aufwachen und versuchen, an der Entwicklung unserer Herzenskräfte und unserer spirituellen und moralischen Entwicklung zu arbeiten. Dann wandeln wir die Bangigkeit und Lähmung im Angesicht mancher Zeitentwicklung um in positive Entwicklungsimpulse.
Die meisten negativen Entwicklungen der Gegenwart sind Folge einer materialistischen Gesinnung, die auf kalte Intellektualität und egoistische Gewinnmaximierung setzt. Anthroposophisch können wir die intellektuellen Kräfte als die ahrimanischen Kräfte und die Egoismuskräfte als die luziferischen Kräfte in unserer Seele bezeichnen. Wenn sie uns in der Welt entgegentreten, können wir sie in ihrer Schädlichkeit erkennen und dann versuchen, sie in unserer eigenen Seele zu überwinden.
Wenn wir nicht die Symptome, sondern die Wurzel der gegenwärtigen Probleme bekämpfen wollen, so müssen wir die intellektualistisch materialistische Seelenhaltung überwinden und uns zu einer ganzheitlichen, spirituellen Weltanschauung wie der Anthroposophie durchringen. Das wäre dann ein Schritt auf dem mühsamen Weg, nicht nur Zeitgenosse, sondern zeitgemäß denkender und handelnder Mensch zu werden.
Zeitgenosse zu werden ist also sowohl eine Erkenntnis- als auch eine Willensfrage. Wir können daher in zweierlei Hinsicht versuchen, Zeitgenosse in rechtem Sinne zu werden. Wir können einerseits in unserem eigenen Umfeld versuchen, zeitgemäß zu handeln, und wir können andererseits das, was wir nicht unmittelbar beeinflussen können, mit einem vertieften, anthroposophischen Verständnis zu durchdringen versuchen.
Auch wenn dies nur ein sehr bescheidener Beitrag ist, so können diesen Impuls dann die guten Kräfte in der Weltentwicklung aufgreifen und verstärken.
Eine pädagogische Momentaufnahme
Beitrag von Claudia Schumann, Waldorflehrerin für Englisch und PGW (Politik, Gesellschaft, Wirtschaft) in der Rudolf Steiner Schule Wandsbek
Als ich gestern früh aufwache und, wie gewöhnlich, meinen Radiosender mit den Nachrichten anmache, erklingt als erstes die Meldung von einer Waffenruhe zwischen der Hamas und Israel, was wohl die Freilassung der verbleibenden israelischen Geiseln und so etwas wie Hoffnung für die in Gaza lebende Zivilbevölkerung bedeutet. Ich nehme einen bewussten Atemzug und höre in mich rein. Okay, ein Schritt in die richtige Richtung. Aber Hoffnung auf eine nachhaltige Lösung des Jahrzehnte andauernden Nahostkonflikts? Nach so vielen vergeblichen Anläufen, unermüdlichen zivilen Friedensinitiativen, politischer Diplomatie, einer Unmenge an traumatisierten Menschen, all das in einer Welt, in der Rechtsruck und Aggressivität zunehmen und Mitgefühl für Menschen, die einem nicht nahe stehen, immer schwieriger zu werden scheint, das gelebte Ideal demokratischer Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse vielen zu anstrengend ist und an Bedeutung verliert und überhaupt…
6:15 Uhr und ich merke, wie müde mich das alles macht, wie Wut und Traurigkeit in mir hoch kriechen, mein Monkey Mind hin- und herspringt und mein Magen anfängt zu flattern.
Es ist Herbst 2025 und ich unterrichte in meinem 14. Jahr Politik an der Rudolf Steiner Schule Hamburg-Wandsbek. In diesen Zeiten begleitet mich ein Gedanke konstant: Wie soll ich meinen Schüler*innen in Anbetracht dessen, was derzeit auf sie einströmt, klarmachen, dass es sich lohnt, gesellschaftliche und weltpolitische Themen zu ergründen und sich zu engagieren? Und das einer Generation, die riesige, größtenteils geerbte gesellschaftliche Probleme und Transformationen bewältigen muss und gleichzeitig mit Meinungen, Informationen und Bildern überschüttet wird, die nur schwer zu filtern sind? Die Anzahl der Jugendlichen, die unter Depressionen und Angststörungen leiden, nimmt zu, während das subjektive Sicherheitsempfinden in Klassenumfragen konstant abnimmt. Der Blick in die kollektive Zukunft ist bei nicht wenigen Schüler*innen derzeit alles andere als optimistisch. All das spiegelt sich in meinen Unterrichten wider und beschäftigt mich, neben Abitur, Leistungsbewertungen, Rahmenlehrplänen, bei der Auswahl geeigneter Themen, Methoden und Informationsquellen.
Trotz alledem sind es gerade die Schüler*innen und die sozialen Räume, die wir im 45- oder 90- Minutentakt gemeinsam gestalten, die mich immer wieder aus meinem Gedankenkarussell herausholen und mich mit all meinen (Selbst-)Zweifeln und Fragen zwingen, mich der Welt und ihrer Realität zu stellen und sich mit ihr und meiner Rolle in ihr konstruktiv auseinanderzusetzen. Und zuweilen gibt es Unterrichtsstunden, die mich einen Moment lang innehalten lassen, wenn ich realisiere, wie Schüler*innen den sozialen Raum des PGW-Unterrichts für sich ergreifen und das praktizieren und leben, was ich mir häufig von uns allen wünschen würde. Drei dieser kleinen Momentaufnahmen möchte ich hier teilen:
Nachdem wir in einer 10. Klasse, mit gemischtem Erfolg, vermehrt geübt haben, wie man eine faire und achtsame Gesprächs- und Diskussionskultur etabliert, führen wir in der 11. Klasse die sehr bekannte „Power Flower“- Übung durch, in der es darum geht, eigene identitäre Zugehörigkeiten zu erfassen und Privilegien und Machtverhältnisse aufgrund gesellschaftlich zugewiesener Rollen zu reflektieren. Die Schüler*innen werten die individuellen Ergebnisse gemeinsam aus, entdecken blinde Flecken und teilen, einige sehr selbstbewusst, andere vorsichtiger, äußerst persönliche und verletzliche Erfahrungen. Es braucht keine Moderation von mir, die Schüler*innen übernehmen eigenständig das Gespräch und sorgen dafür, dass jede*r ohne Kommentar gehört und ernst genommen wird.
Eine Schüler*in in der 13. Klasse berichtet, als wir uns mit dem Gaza Krieg und der medialen Berichterstattung befassen, dass sie sich bewusst bei TikTok und Instagram wegen der Flut an emotionalisierenden Bildern abgemeldet hat, um ihre eigene mentale Gesundheit zu schützen und stattdessen Zeitungsartikel liest, um sich zu informieren. Ihrem Beispiel folgen später andere Schüler*innen.
In einer 12. Klasse sind die Schüler*innen aufgefordert, nachdem sie eine Zeitleiste im Raum zur Entwicklung der Menschenrechte erstellt haben, eine Person auf einen Zettel zu schreiben und an die Zeitleiste zu hängen, die sie in ihrem Engagement und Aktivismus bewundern oder die sie beeinflusst hat. Neben bekannten Persönlichkeiten wie Martin Luther King Jr., Nelson Mandela, Jina Mahsa Amini oder Marsha P. Johnson erscheint auch der Name eines*r Schüler*in mit der Begründung, dass diese Person immer wieder wichtige Themen in die Klasse bringt und Informationen teilt und so entscheidend dazu beiträgt, dass alle ihr Bewusstsein schärfen und sich sensibilisieren können.
Drei kleine, unspektakuläre Momente, die es mir und den Schüler*innen ermöglicht haben, sich im sozialen Miteinander zu zeigen, präsent zu sein und voneinander zu lernen. Mir solche Erfahrungen bisweilen bewusst zu machen – ich brauche das in diesen Zeiten, um morgens aufzustehen und mich der Welt zu stellen.
Wie bin ich heute Zeitgenosse?
Beitrag von Paula Kiefer, Studentin des Forschungsstudium Soziale Dreigliederung
Seit zwei Jahren studiere ich in einem freien Forschungsstudium Soziale Dreigliederung. Von der Unfruchtbarkeit des staatlich finanzierten und kontrollierten Bildungswesens überzeugt, habe ich mich mit anderen jungen Menschen zusammengeschlossen, um das zu lernen, was die Zukunft von uns fordern wird. Seit Beginn unseres gemeinsamen Studierens und Forschens treffen wir uns auch einmal in der Woche, um das aktuelle Zeitgeschehen zu besprechen. Zunächst erwuchsen diese Treffen schlicht aus dem Wunsch, informiert zu sein. Wir teilten uns also die aktuellen Ereignisse auf, um sie gründlich recherchiert den anderen berichten zu können. Bald merkten wir aber, dass diese Zusammenkünfte noch auf einer anderen Ebene zu einem elementaren Bestandteil unseres Studiums geworden sind.
Als Rudolf Steiner sich 1919 darum bemühte, gemeinsam mit der Arbeiterbewegung Betriebsräte zu bilden, um das Wirtschaftsleben zu sozialisieren, war es ihm ein großes Anliegen, dass auch auf dem Gebiet des geistigen Lebens sogenannte Kulturräte entstehen. Deren Aufgabe war es unter anderem, die Kulturschäden des damaligen Zeitgeschehens zusammenzutragen und zu beobachten. Der Kulturrat sollte der Gesellschaft sozusagen einen Spiegel vorhalten, so dass im Anblick der Schäden, die unsere moderne Kultur verursacht, der Mut erwache zu einer echten Neugestaltung. – Ist es möglich über all dem, was heute in der Welt geschieht, nicht zu verzweifeln, sondern es so anzuschauen, dass es in uns Mut, Kraft und den Willen zu einer gesellschaftlichen Erneuerung erweckt?
Für mich sind die Gedanken Rudolf Steiners zur Sozialen Dreigliederung hierbei eine unerlässliche Stütze. Sie schenken mir die hoffnungsvolle Gewissheit, dass die Menschheit einen Ausweg aus den Problemen, Krisen und Kriegen finden kann. Gleichzeitig stellen sie viele der Zeitereignisse in ein neues Licht. Der schreckliche Krieg in Gaza kann zum Beispiel zum Symptom für die Unmöglichkeit werden, einen Rechtsraum an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder Kultur zu binden und beides miteinander zu vermischen. Dadurch wird der Krieg nicht weniger grausam, aber es offenbart sich in ihm eine bestimmte Art zu denken, die unsere ganze Kultur durchzieht. Er wird zum Kulturschaden. Auf diese Art angeschaut offenbart das bedrückende Zeitgeschehen die Notwendigkeit, das Zusammenleben der Menschheit grundlegend neu zu orientieren – und damit dies möglich wird, erstmal gründlich zu verstehen.
So dient uns die Beschäftigung mit dem Zeitgeschehen nicht nur dazu, über die Weltlage informiert zu bleiben, sondern ist uns auch zu einem Kraftquell geworden, indem sie uns immer wieder den Sinn unseres Studiums lebhaft vor Augen stellt. Vieles von dem, was passiert, können wir zwar nicht ändern. Wir können aber versuchen, neue Gedanken zu denken und sie in die Welt zu schicken, auf dass es in der Zukunft anders werde.
Anfänglich versuchen wir dies mit dem Schreiben von Texten, die wir in Heftform an alle Interessierten versenden, um zu teilen, was wir uns durch unser Studium erarbeiten. In einigen dieser Texte werfen wir mit Hilfe der Sozialen Dreigliederung auch einen Blick auf das aktuelle Weltgeschehen. Auf der Seite dreigliederungsstudium.de findet sich die Möglichkeit, Hefte zu bestellen und unsere Arbeit zu unterstützen.
Aktivierung der Ohnmacht
Beitrag von Tarik Özkök, Pfarrer der Christengemeinschaft in Hamburg-Bergedorf
„Was ist der Mensch, dass du sich seiner gedenkst, und des Menschen Sohn, dass du seiner gedenkst?“
… fragen die Engel, als Gott das Risiko eingeht, den harmoniegefährdenden Menschen zu schaffen. (aus: Sagen der Juden, 2.Buch)
Krisen und Kriege, Hungersnöte und Katastrophen gab es in der Menschheitsgeschichte schon ungezählt viele. Aber diese abstrakte Erkenntnis macht die Gegenwart nicht weniger bedrohlich. Besonders da wir als Gesellschaft in Mitteleuropa dankbar auf Jahrzehnte relativen Friedens und hohen Wohlstands blicken können und das mittlerweile für einen selbstverständlichen Dauerzustand halten. Aber wer viel hat, hat auch viel zu verlieren. Und selbst, wenn die Kriege und Nöte bald aufhören würden, sieht man, wie mit großem Eifer ungebremst daran arbeitet wird, das Menschenbild immer mehr mit Technik zu vermischen und es so zu verwischen – äußerlich und begrifflich. Der Blick in den Sternenhimmel, wo ehemals noch Götterwohnungen ahnte, weckt heute Sehnsüchte, den Menschen auf den Mars zu schießen. Götter werden geleugnet, aber Technik angebetet. Der Mensch hält sich für ein nichtiges Staubkorn im Weltall, aber geht mit der Schöpfung um, als wäre sie nichts als Verfügungsmasse seiner technischen Machbarkeitsträume.
Es gibt also genug Anlässe, um desillusioniert, pessimistisch, oder gleich Misanthrop zu werden. Naheliegende Reaktionen wären auch, Zorn auf vermeintlich Schuldige zu entwickeln oder zu flüchten. Z.B. in die private Gemütlichkeit, oder in eine nostalgisch verklärte Vergangenheit, die es wahrscheinlich so nie gegeben hat. Oder man erhofft sich eine Zukunft in der bald alle Probleme der Welt technisch lösbar sein werden.
Wenn man nicht dem Zufall die Schuld dafür gibt, dass die Zeiten, in die man geboren ist, so sind, wie sie sind, dann kann man versuchen, die gegenwärtigen Verhältnisse erstmal anzunehmen und sie als zum eigenen Wesen gehörig anzusehen. Desillusion kann also ein erster Schritt dazu sein, denn: „Zeitgenössisch ist derjenige, der seinen Blick fest auf seine Zeit richtet, um nicht deren Glanz, sondern deren Finsternis wahrzunehmen“ meint der Philosoph Giorgio Agamben. Und das kann in mir das Bedürfnis wecken, selbst für mehr Licht zu sorgen. Dann kann ich versuchen, für mich eine Dosis zu finden, inwieweit ich das Leid in der Welt an mich herankommen lassen und mitfühlen will. Mit diesem menschheitsweiten Blickwinkel fühle ich mich vielleicht noch ohnmächtiger als vorher, bin aber durch meine Anteilnahme mehr mit der Welt verbunden. Ich werde vom passiven Zuschauer zum aktiven Zeugen der Zeit und Protagonisten im Menschheitsdrama. Denn dann ist mir das Weltgeschehen nicht egal. Ein Gefühl der Verantwortung für die Welt kann in mir wachsen. Mein Anspruch muss nicht die sofortige Abwendung von Übel und Katstrophe sein, sondern das Bemühen, um jeden noch so kleinen Betrag zur Erhellung und Verwandlung der Verhältnisse. Da zählt nur, ob ich Bewusstsein an ihnen erwecken und mit Liebe in meinem kleinen Umkreis etwas verwandeln kann. Und wo ich meine, dass etwas falsch läuft, kann ich versuchen, es wenigstens „ins Richtige zu denken“, damit es vielleicht in Zukunft Wirklichkeit werden kann.
Folgende Bemühungen können das unterstützen: in der Wahl der Informationsmedien und in Gesprächen versuchen, so viel wie möglich verschiedene Perspektiven und Meinungen neutral anzuerkennen und mich nicht in einer sich selbst bestätigenden Meinungsblase abzuschotten – in dem Gefühl, zu den Wissenden zu gehören. Dadurch kann ich eine besonnene Urteilsfähigkeit ausbilden, die kritisch und offen zugleich ist. Je weniger Angst ich vor mir unangenehmen Tatsachen habe, kann sich mein Wahrheitsgefühl entwickeln. Das wird in Zukunft immer nötiger, wenn die optischen und propagandistischen Täuschungen immer geschickter werden. Auf dem Mittelweg zwischen der Aussage des Dichters Ch. Bukowski: „Das Schlimmste kommt noch!“ und falschen Hoffnungen kann ich zu einer realistischen Einschätzung der Zukunft kommen, die mein Handeln miteinschließt. Ich kann berücksichtigen, dass die schlimmen Ereignisse auch dadurch übermächtig erscheinen, weil das Destruktive immer faszinierender ist, d.h. meine Aufmerksamkeit bannt, als die Wahrnehmung guter Ereignisse. Um die zu bemerken und zu schätzen, muss ich sie aktiver suchen, weil sie oft nicht so ins Auge springen. So denken wir beim Wort Apokalypse oft mehr an Weltuntergang, obwohl es dort auf einen Weltaufgang zugeht, den der Mensch durch seine Überwindungskraft in seinen Prüfungen möglich macht. Denn die Umbrüche und Schwellensituationen, der die Menschheit ausgesetzt ist, gefährden seine Fortbestehen, ebenso wie sie es dadurch ermöglichen, da der Mensch und das Menschliche sich grade in ihren Bedrohungen bewähren und wachsen können. So hat Christus auf Seuchen, Hungersnöte und Katastrophen als Vorboten seiner geistigen Wiederkunft gewiesen, wenn er den Menschen in seiner Ohnmacht auf seinen weiteren Wegen helfend beistehen will. (Mk. 13, 1-23)
Standhalten im Wandel – Verantwortung und Zuversicht in Krisenzeiten
Beitrag von Uli Ott, Mitinhaberin eines Hamburger Geschäfts für Mode aus nachhaltiger Produktion
Wie gelingt es, in einer Zeit voller Krisen – Kriege, Aufrüstung, Klima- und Umweltzerstörung, die Gefährdung demokratischer Strukturen – aufrecht zu bleiben und zuversichtlich nach vorn zu schauen? Wer Nachrichten verfolgt, kennt Ohnmacht, Resignation oder Angst. Manche ziehen sich zurück, andere suchen Wege, Verantwortung zu übernehmen. Eine endgültige Antwort gibt es nicht. Doch wir können Haltungen entwickeln, die Orientierung und Halt geben.
Für uns als Familie, die seit drei Jahrzehnten mit Marlowe green fashion in Hamburg nachhaltige Mode anbietet, ist diese Frage eng mit unserer Arbeit verbunden. Als wir begannen, war „nachhaltige Mode“ ein Nischenthema. Heute, da ökologische Krisen unübersehbar sind, wissen wir:
Jede Kaufentscheidung, jedes Gespräch, jedes fair produzierte Kleidungsstück ist Teil eines größeren Prozesses – eines verantwortungsvollen Umgangs mit Mensch und Natur. Das zeigt, dass auch im Kleinen Wirkung entsteht.
Zwischen Alltag, Idealen und Weltgeschehen
Wie viele andere stehen auch wir im Spannungsfeld von drei Dimensionen:
1. den Anforderungen des Alltags – Geschäft, Familie, finanzieller Druck,
2. unseren Idealen – Einsatz für ökologische und faire Produktionsweisen, kulturelle und ethische Werte,
3. dem Weltgeschehen – Krisen, die uns täglich erreichen.
Gerade die dritte Dimension wirkt überwältigend. Niemand kann allein einen Krieg beenden oder den Klimawandel stoppen. Aber wir können prüfen, wo wir unsere Stimme erheben und handeln.
Politische und gesellschaftliche Wirksamkeit
Engagement hat viele Formen: Wahlrecht, Mitarbeit in Parteien oder Initiativen, Engagement in Klima- und Umweltbewegungen, Gewerkschaften oder Gemeinden. Auch Kundgebungen, Briefe oder Petitionen sind Ausdruck lebendiger Demokratie.
Verantwortung zeigt sich ebenso in täglichen Entscheidungen. Wer faire Mode wählt, regionale Initiativen unterstützt oder im Beruf nachhaltige Lösungen anstrebt, gestaltet aktiv mit. In unserem Geschäft erleben wir, dass Kleidung nicht nur Konsumgut ist, sondern Ausdruck von Haltung. Mode kann ein Statement sein – für Qualität, Respekt gegenüber den Herstellenden und gegenüber der Natur.
Mit Ohnmacht umgehen – Stärken leben
Wir müssen unterscheiden, wo unser Handeln gefragt ist und wo wir aushalten müssen, nicht eingreifen zu können. Diese Erfahrung der Ohnmacht ist oft schmerzlich, aber unvermeidbar. Auch zweifeln wir manchmal, ob unser Beitrag im Vergleich zu den großen Krisen ausreicht. Doch gerade dann zeigt sich die Kraft, die eigenen Stärken einzusetzen und Verantwortung im eigenen Wirkungsfeld zu übernehmen.
Zuversicht nähren
Niemand kann dauerhaft in direkter Konfrontation mit Krisen bestehen, ohne Kraftquellen zu pflegen. Für uns sind das Begegnungen mit Kundinnen und Kunden, Gespräche über Werte, das Vertrauen, das uns entgegengebracht wird. Auch Kunst, Musik, Naturerleben und gemeinschaftliches Engagement gehören dazu.
Die kleine Geschichte von Frederick, der Maus, die im 1967 erschienen Bilderbuch von Leo Leonni Farben und Sonnenstrahlen sammelt, fällt mir dabei ein und macht deutlich: In dunklen Zeiten braucht es immaterielle Vorräte – Bilder, Geschichten, Erlebnisse, die Hoffnung schenken und das Herz erwärmen.
Auch unser Geschäft ist für uns solch eine Quelle: Die Begegnung mit Menschen, die sich bewusst für nachhaltige Mode entscheiden. Das Vertrauen, das uns seit Jahrzehnten entgegengebracht wird und die Weitergabe des Unternehmens an unsere Töchter sind Momente, die uns Kraft geben. Sie zeigen, dass Verantwortung weitergegeben und neu gestaltet werden kann
Fazit
Aufrecht zu bleiben in Krisenzeiten heißt nicht, die Welt allein retten zu wollen. Es heißt, dort zu handeln, wo wir Einfluss haben – politisch, gesellschaftlich und im Alltag. Es heißt, Ohnmacht auszuhalten, ohne zu resignieren, und zugleich Räume der Zuversicht zu schaffen.
Dass wir unser Geschäft an die nächste Generation weitergeben konnten und weiterhin aktiv sind, erfüllt uns mit Dankbarkeit – und mit der Gewissheit, dass Verantwortung nicht endet, sondern sich wandelt. Jeder Schritt, so klein er erscheinen mag, ist Teil eines größeren Ganzen. In diesem Bewusstsein können wir bestehen – und zuversichtlich in die Zukunft schauen.
