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Vom Leben und vom Gehen
oder Die Wahrheit des Augenblicks
Ein Bilderzyklus von Ulrich Rölfing
„Wenn ein Leben abgeschlossen ist, zeigt es im Rückblick eine ganz neue Gestalt.“ Dem Hamburger Maler Ulrich Rölfing ist es gelungen, nach dem Tod seiner Mutter diese Bedeutung auf künstlerische Weise auszudrücken.
Ulrich Rölfing lebt und arbeitet als Bildhauer und Maler in Hamburg. Sein künstlerischer Werdegang begann 1979 in Florenz, wo er durch den italienischen Bildhauer Raimondo Puccinelli in die Bildhauerei eingeführt wurde. Es folgte ein Studium der Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Bochum und ein Kunststudium in Wien.
Durch Ausstellungen im In- und Ausland und durch seine Werke im öffentlichen Raum ist seine Kunst vielfältig präsent. Ulrich Rölfing ist Stipendiat der Malschule Weimar, der Otto Flath Stiftung, der Stadt La Rochelle (Frankreich) und Preisträger der Stadt Pöchlarn.
Text von Ulrich Rölfing zu seinem Bilderzyklus
Ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter drängte es mich, malend ein Blick auf ihr Leben zu werfen, so entstand eine Bildfolge von über 90 Bildern.
Wenn ein Leben abgeschlossen ist, zeigt es im Rückblick eine ganz neue Gestalt. Alle Ereignisse und Eigenheiten rücken näher zusammen und zeigen eine Verbundenheit, die zuvor nicht sichtbar war.
So ging es mir mit dem Leben meiner Mutter. Beiläufige Gesten und Verhältnisse rückten auf einmal ins Zentrum und begannen zu sprechen. Unbeachtete Fotografien gewannen auf einmal für mich eine Aussage und wurden Ankerpunkte für seelische Bilder, die an die Oberfläche drängten.
Die zeitliche Abfolge der Ereignisse trat zurück und eine Zusammenschau des Lebens als Ganzheit trat in den Vordergrund. Ein Tableau all dessen, was dieses Leben ausgemacht hat, war in einer gewissen Gleichzeitigkeit zu fühlen und zu erahnen: spätere Entwicklungen und Verhältnisse waren schon in früheren Begebenheiten und Stimmungen anwesend.
Deshalb ordne ich die Bilder in Ausstellungen, oder auch in dem zu ihnen erschienen Buch, nicht in chronologischer Erzählweise an. Darum geht es nicht. Ich gruppiere die Bilder so, dass andere Bezüge und Strukturen hervortreten.
Im Arbeitsprozess ergab sich, dass unscheinbare, beiläufige Augenblicken im erinnerten Leben eine große Wucht und Kraft bekamen und mehr zu sagen hatten als die Eckpunkte des tabellarischen Lebenslaufes. In ihnen fasste sich in einem Fokus Vieles zusammen, was ansonsten schwer greifbar gewesen wäre.
So konnte ich mich an allgemeinmenschliche Aussagen heranwagen, indem sie ins Persönliche und situativ Konkrete gebrochen waren, die ansonsten so für mich nicht formulierbar gewesen wären. Alles Anekdotische blieb außen vor.
Nur der Augenblick hat in sich die Möglichkeit über sich selbst hinauszuweisen. Ich habe versucht ihn aus seiner Zufälligkeit herauszulösen und mit einem inneren Bild zur Deckung zu bringen.
Zur horizontalen Richtung des Lebens als eines Verlaufes, kam so die vertikale Potenz des Augenblicks. Die Ganzheit des Lebens schlummerte oft da, wo ich sie nicht erwartet hatte.
Es findet sich in meiner Bildfolge „Vom Leben und vom Gehen“, aus der einige Beispiele hier abgedruckt sind, natürlich auch viel Zeit- und Rollentypisches. Aber diese Bedingtheit wird dadurch gebrochen, indem die zentrale Figur aus dem konkreten Umfeld herausgelöst und in einen abstrakt aufgefassten Farbraum hineingestellt wird.
Man sieht in der Bildfolge bestimmte Kleidungen und Körperhaltungen, man sieht meine Mutter als Lehrerin, als Baby, als Pflegebedürftige, als Ehefrau, als Sterbende, in BDM Uniform, als Hausfrau und Anderes. All diese archetypischen Rollen werden mehr oder weniger ausgefüllt und sind individuell gefärbt wirksam.
Die eigene Mutter ist nahe, zeitweise zu nahe. Diese Bilderreihe ist ein Versuch aus der Nähe heraus eine Wahrheit zu gestalten und zugleich ein Ringen um Distanz, damit eine Aussage möglich wird. Sie sind liebevolle Zuwendung und Objektivierung zugleich.
Zu der Bilderserie ist ein Katalogbuch mit 44 Abbildungen und 2 Texten erschienen.
Es ist bei Ulrich Rölfing für den Preis von 22,- zu beziehen.
Wie sich aus Linien und Farben eine Haltung entwickelt
von Harald Schiller, Auszüge aus einem Essay aus dem Katalogbuch zur Bildfolge
Ein Wagnis! Der Hamburger Maler Ulrich Rölfing hat sich nach ihrem Tod mit dem Leben seiner Mutter auseinandergesetzt, nicht erst seit Sigmund Freud Schwerstarbeit. Zwei Jahre lang arbeitete er an dem Projekt. Für den Künstler jedoch ein Wagnis noch aus anderem Grund. Rölfing ist Maler und Bildhauer, aber auch studierter Kunsthistoriker. Er kennt die Stil- und Formgeschichte des Frauen- und Muttermotivs in der bildenden Kunst. Er beherrscht die Entwicklungslinien. Ein illustres Figurenrepertoire von frühmittelalterlichen Marienbildnissen über Albrecht Dürers Kohlezeichnung seiner greisen Mutter bis zu den Instagram-Bilderströmen der Pop-Ikone Madonna prägt unser kollektives Bildgedächtnis. Rölfing weiß um den Diskurs, der um die Rolle der Mutter geführt wird, Regalkilometer füllen Bibliotheken. Die Messlatte lag hoch.
Es geht Rölfing um neue Blickwinkel, Bezüge und Strukturen. Den geschichtlichen Rahmen dieses Lebens stecken Friedrich Ebert, erster Reichspräsident der Weimarer Republik, und Joachim Gauck, elfter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, ab. Carola Rölfing verstarb 2013. Geboren wurde sie ein paar Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs im westfälischen Stromberg. Die Traumata des Zweiten Weltkriegs trug sie in ihrer Seele, die Wirtschaftswunderjahre, die Zeiten mit heranwachsenden Kindern und schließlich die Rätsel, die ihr das Alter aufwarf. „Unscheinbare, beiläufige Augenblicke dieses Lebens bekamen als Erinnerung eine ungemeine Wucht und Kraft und hatten mehr zu sagen als die Eckpunkte des tabellarischen Lebenslaufs“, erklärt der Künstler. Er näherte sich einer Frau, die im Garten Blumen gießt, gedankenverloren an einer Tasse nippt oder in einer Illustrierten blättert.
Den arglosen Blick eines Kleinkindes, die grazile Anmut einer jungen Frau und den selbstvergessenen Blick einer Naturbetrachterin untersucht er für die „Wahrheit des Augenblicks“. Und das Gesicht einer Greisin. Mit diesem Verfahren glückt ihm der Blick auf die Schönheit eines Menschen. Keine Lebensphase wird verklärt, auch das Alter nicht. Wir sehen Bilder vom Verfall, von Krankheit und vom Tod. Den Sterbemoment seiner Mutter, zweifellos eine Grenzsituation, erleben wir als Farbtupfer auf der Palette eines Lebens. Rölfings Bilder verstören nicht.
Rölfing nähert sich in seinen Arbeiten dieser Frau, seiner Mutter, mit Liebe und Respekt. Nie läuft er Gefahr, sie zu verklären. Rölfing ist ein Entdeckungsmaler. Er sucht „Ankerpunkte für seelische Bilder, die an die Oberfläche drängten“, wie er erklärt. Er geht mit unbekanntem Ziel auf Reisen. Und entdeckt die Wahrheit des Augenblicks.
In schnellem Tempo hat Rölfing die Bilder geschaffen, mit Eitempera, einer Mixtur aus Ei, Öl und Wasser, die leuchtstarke und intensive Farben bildet. Das Leben, das er darstellt, ist, wie jede Biografie, aus individuellen Motiven und gesellschaftlichen Konventionen zusammengesetzt.
Rölfing hat im Laufe seiner Malerkarriere eine eigene Sprache entwickelt, das Ergebnis seines Malstils sind Porträts, die nicht Realismus anstreben. Sie bringen den inneren Glanz eines porträtierten Menschen zum Vorschein, aus Linien und Farben entwickelt sich eine Haltung. Die Kunsthistorikerin Eva Maria Schöning stellte einen Zusammenhang des abstrakt malenden Rölfing zur konkreten Kunst fest, „um diese Erfahrung geht es in den Bildern von Ulrich Rölfing, (…) um die Konzentration auf die ureigenen bildnerischen Mittel, ihre Gesetzmäßigkeiten und Gestaltwerte. Linie, Fläche, Farbe, Form sind mit sich selbst identisch.“ Für Rölfing ist die Entscheidung für figuratives oder abstraktes Arbeiten keine programmatische, sondern eine pragmatische. „Das Figürliche ist nicht ablösbar von der formalen Struktur, wie sie in der Farbe und Formgestaltung gegeben ist.“
Auf dem Bild auf Seite 13 ist das wunderbar erkennbar, wir betrachten eine lesende Frau. Figur und Fläche gehen ineinander über, bedingen einander. Und hüten ihr Geheimnis. Ein Strandstuhl, auf dem die Figur sitzt, lässt den Untergrund zum Sand erkennen und öffnet den Hintergrund zum blauen Meer und den ockerfarbenen Hintergrund als Himmel. Das Credo von Prof. Dr. Max Imdahl, der bis 1988 Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum lehrte und dort eine ganze Studentengeneration begeisterte, gilt wohl auch für das Werk des Westfalen Rölfing, der sich damals unten ihnen befand: „Der Einfachheit der Form entspricht nicht unbedingt eine Einfachheit der Erfahrung.“
Rölfing konzentriert sich auf den Aufbau der Haltung. Oft verzichtet er auf die Gestaltung individueller Gesichtszüge. Zwei, drei Farbflächen bilden den Hintergrund und belassen die Konzentration auf der Figur. Rölfing nennt es „ein abstraktes Umfeld, aus dem die Figur herausgelöst wird.“
Rölfing ist nicht der allwissende Porträtist. Er bekundet seiner Mutter Respekt durch die Fragezeichen, die in diesen Bildern auftauchen.
Die Frage nach einem Ziel wollen die Bilder nicht beantworten. Ihrer Kraft und Offenheit kann sich ein Betrachter kaum entziehen. Sehen wir die starken und intensiven Bilder dieser Werkgruppe über das Leben und Sterben seiner Mutter Carola, nähern wir uns dem Kern eigener Haltungen. Das Wagnis des Künstlers Rölfing hat sich gelohnt.
Harald Schiller studierte Germanistik und Kulturmanagement in Münster/Westf. und Hamburg, wo er das Kommunikationsbüro geschichtenwerft gründete und als Ausstellungsmacher, Autor, Journalist und Texter arbeitet.