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Seelische Erkrankungen und ihre besonderen Herausforderungen
Interview mit Dr. med. Wolfgang Rißmann, Facharzt für Psychiatrie
Jeder kennt Lebenskrisen, die mehr oder weniger stark sind. Und es gibt eine ganze Spannbreite seelischen Erlebens, die sich im extrem als psychiatrische Erkrankung darstellen. Von körperlichen Krankheiten kann sich der Mensch seelisch und geistig distanzieren, bei seelischen ist unmittelbar die Fähigkeit zu denken, Gefühle zu entwickeln oder den Willen einzusetzen behindert, insbesondere auch das Erleben der eigenen Person.
Dr. Wolfgang Rißmann hat ein grundlegendes Buch über seelische Erkrankungen auf Grundlage anthroposophischer Erkenntnisse geschrieben. Dieses Buch wird am 16. September im Rudolf Steiner Haus vorgestellt. (Siehe am Ende des Interviews.)
Interviewpartner: Dr. med. Wolfgang Rißmann ist Facharzt für Psychiatrie und war leitender Arzt und Qualitätsmanager an der Friedrich-Husemann-Klinik in Buchenbach bei Freiburg i.Br. Er ist in der Ausbildung von Medizinstudenten, Ärzten, Pflegenden und Therapeuten tätig. Vielfältige Vortrags- und Seminartätigkeit zu den Themen der allgemeinen Anthroposophie und Prävention psychischer Krankheiten. Besonderer Arbeitsschwerpunkt ist die Entwicklung von anthroposophischen Arzneimitteln bei psychischen Krankheiten. Seit Februar 2014 Privatpraxis für Psychiatrie in Hamburg-Volksdorf.
Christine Pflug: Wie ist es dazu gekommen, dass Sie das Buch geschrieben haben?
Dr. Wolfgang Rißmann: Vor 30 Jahren wurde klar, dass wir innerhalb der Anthroposophischen Psychiatrie ein neues Fachbuch benötigen.
Ich habe mich später auf vielfache Anfragen hin entschlossen, ein solches Buch zu schreiben, und zwar nach meiner Pensionierung in der Friedrich-Husemann-Klinik.
C. P.: Was ist seelisches Leiden?
Dr. W. Rißmann: Seit etwa 200 oder 300 Jahren unterscheiden wir zwischen körperlichen und seelischen Erkrankungen. Das war in früheren Jahrhunderten nicht so deutlich, obwohl seelische Erkrankungen schon in der Antike und sogar in der ägyptischen Medizin um 1900 v.Chr. beschrieben wurden.
Seelische Krankheiten wurden damals eher als Besessenheit böser Geister verstanden, zum Beispiel auch in den Evangelien. Aber seit der Aufklärung sprechen wir ausdrücklich von seelischen Erkrankungen und unterscheiden sie von körperlichen Leiden. Der Unterschied besteht darin, dass ich bei einem körperlichen Leiden auf den Körper hinschauen und mir sagen kann: nicht ich bin krank, sondern mein Körper. Ich kann mich selber als Seele und Geist mehr oder weniger von der Krankheit distanzieren, auch wenn ich an Schmerzen und Funktionsstörungen leide.
unmittelbar betroffen bis hin in die eigene Identität und Urteilsfähigkeit
Bei seelischen Erkrankungen ist das anders. Da ist meine Fähigkeit zu denken, Gefühle zu entwickeln oder den Willen einzusetzen behindert, verändert, verfremdet, insbesondere auch das Erleben der eigenen Person. Ich bin unmittelbar betroffen bis hin in die eigene Identität und Urteilsfähigkeit und habe es schwer zu akzeptieren, dass ich selbst krank bin. Entweder ich verleugne meine Erkrankung und sage mir: „Ich bin gar nicht krank, das ist etwas anderes“, oder ich leide so stark, dass ich eben keine Distanz mehr zu mir habe. Ein weiterer Unterschied zu körperlichen Krankheiten ist noch der, dass bei seelischen Leiden die nächsten Angehörigen und der soziale Umkreis über die Maßen gefordert sind. Da ist oft wenig Verständnis vorhanden bis hin zu Ablehnung und Stigmatisierung der Betroffenen.
Seelisch kranke Menschen werden in der Bevölkerung immer noch ambivalent betrachtet und behandelt. Wenn sie in der Öffentlichkeit Gewalt gegen andere Menschen verüben, geht ein Riesenaufschrei in der Bevölkerung vonstatten, und es ist den meisten gar nicht klar, dass das extrem seltene Ereignisse sind. Stigmatisierung und mangelndes Verständnis sind nach wie vor ein großes Problem, bis hin in die medizinisch psychiatrische Versorgung und Finanzierung seelischer Behandlung usw.
C. P.: Die Stigmatisierung und die Ängste im Umfeld sind die eine Seite, vor allem wenn das Umfeld betroffen und belastet ist. Auf der anderen Seite gibt es eine Faszination. Immer wieder erscheinen psychische Erkrankungen in Kinofilmen, populäre Filme wie „Einer flog übers Kuckucksnest“, Rainman, in den letzten Jahren immer wieder das Thema Demenz usw., mitunter wird es auch in der Literatur beschrieben. Wie kann man diese Faszination erklären?
Dr. W. Rißmann: Bestimmte seelische Erkrankungen, vor allem die psychotischen, aber auch Traumafolgestörungen und Demenz sind für viele Menschen schwer verständlich, aber oft faszinierend, bizarr, unheimlich, dramatisch oder ungewöhnlich. Das geht bis dahin, dass man manchmal meint, die Betroffenen hätten übernatürliche Erlebnisse, was vielleicht selten auch der Fall ist. Ich glaube, das macht die Faszination aus.
C. P.: Seelisches Leiden hat ja ein großes Spektrum. Jeder kennt Lebenskrisen, die mehr oder weniger stark sind und bis zu reaktiven Depressionen, Angstzuständen usw. gehen können. Dann gibt es manifeste Erscheinungen wie Persönlichkeitsstörungen oder andere psychiatrische Erkrankungen, die akut auftreten können oder latent vorhanden sind. Eine klassische und allgemein verständliche Beschreibung dieser Bandbreite findet man in den „Grundformen der Angst“ von Fritz Riemann: Jeder von uns hat eine Tendenz entweder zu hysterischem, depressivem, zwanghaftem oder schizoidem Verhalten, das aber in fließendem Übergang zu einer manifesten seelischen Erkrankung gehen kann.
Wie kann man das unterscheiden? Gibt es da Kriterien?
Dr. W. Rißmann: Das ist eine Frage, die schon seit 150 Jahren immer wieder diskutiert wird. Man unterscheidet heute zwischen einer kategorialen Einteilung seelischer Krankheiten, mit der man definiert, ob der Betreffende z.B. an einer Depression oder einer schizophrenen Psychose leidet.
Wir sollten viel mehr auf Entwicklungsprozesse hinschauen.
Zum anderen gibt es eine dimensionale Betrachtung der Krankheit. Das heißt, man schaut auf die Entwicklung, auf Vorstufen, Entwicklungsphasen und so weiter. Diese Frage nach einer dimensionalen Betrachtung wird heute immer stärker diskutiert. Denn es wird deutlich, dass die kategoriale Betrachtung in ihrer starren Krankheitsdefinition uns nur bedingt weiterhilft. Wir brauchen sie zwar schon, aber wir sollten viel mehr auf Entwicklungsprozesse hinschauen.
Das ist ein neuer Zug der gegenwärtigen Psychiatrie. Man kann sich das klar machen, wenn man beispielsweise das Thema Angst anschaut. Angst ist zunächst ein ganz normales Gefühl. Jeder Mensch hat Ängste, lernt irgendwie seit Kindheit an, damit umzugehen. Aber diese Ängste können sich eben steigern, so dass die Angst allmählich einen Grad erhält, dass sie rational nicht mehr erklärbar ist und krankhaft wirkt.
Diese dimensionale Entwicklung von Angst zeigt deutlich, dass man ab einem bestimmten Punkt von Krankheit sprechen sollte.
einer Steigerung der gesunden Grundangst bei vielen Menschen
Gegenwärtig entsteht der Eindruck, dass Ereignisse wie z.B. die Corona-Epidemie oder die vielfachen kriegerischen Auseinandersetzungen zu einer Steigerung der gesunden Grundangst bei vielen Menschen führen. Die modernen Medien und auch die Politik akzentuieren und beschleunigen diesen Prozess oft. Die weltweite militärische Aufrüstung bis zu Atomwaffen ist letztlich auch ein Angstphänomen. Der Einzelne ist dabei immer mehr gefordert, kühlen Kopf zu bewahren und die eigene Urteilsfähigkeit zu stärken.
Die dimensionale Entwicklung gilt auch für die Phänomene von Einsamkeit, Bedrücktheit, von seelischer Erschöpfung bis hin zu schwersten Depressionen. Auf der anderen Seite beobachten wir Phänomene von Enthemmung oder latenter Gewaltbereitschaft, die sich bis zu manischen Zuständen steigern können.
Auch Misstrauen kann sich entwickeln zur Gewissheit, „die anderen haben etwas gegen mich“. Man nennt das dann Verfolgungswahn.
Bei den meisten seelischen Erkrankungen können wir diese dimensionale Entwicklung beobachten.
C. P.: Und jetzt zu den Ursachen von diesen psychiatrischen Erkrankungen. Was sagt man dazu in der Schulmedizin? Rudolf Steiner sprach davon, dass die psychischen Erkrankungen eine körperliche Ursache haben, die körperlichen wiederum eine seelische Ursache.
Dr. W. Rißmann: Den Begriff Ursache, sollte man differenzieren. Man spricht heute zunächst von den primären Ursachen: das kann die Vererbung sein, – besonders ausgeprägt bei der bipolaren Störung und bei den schizophrenen Erkrankungen. Auf der anderen Seite gelten unzureichende Erziehung, Vernachlässigung und traumatische Erfahrungen in der Kindheit als primäre Ursachen.
Davon zu unterscheiden sind auslösende Ursachen wie Überlastung, Stress, Erschöpfung, wiederholte leichte Traumatisierung oder ungute Einflüsse der Zivilisation, Suchtverhalten, Entfremdung von der Natur, übermäßiger Medienkonsum, Vereinsamung u.a.
Und drittens gibt es körperliche Bedingnisse. Wir wissen heute, dass alle seelischen Erkrankungen neurobiologische Spuren im Gehirn zeigen. Man spricht von der Neurotransmitterstörung. Der Hirnstoffwechsel ist gestört oder sogar das Gehirn in seiner Feinstruktur verändert.
Es ist für die Behandlung wichtig, zwischen den verschiedenen Ursachen und Bedingnissen zu unterscheiden.
C. P.: Was ist mit der Vulnerabilität, also der Verletzlichkeit?
Dr. W. Rißmann: Vulnerabilität ist ein sehr umfassender Begriff mit verschiedenen Wurzeln. Sie kann angeboren oder durch Stress der Mutter in der Schwangerschaft oder als Kleinkind durch Traumatisierung erworben sein.
in Zukunft vermehrt seelische Erkrankungen zu erwarten
Rudolf Steiner sprach nicht einseitig von monokausalen Ursachen oder Bedingnissen. In frühen Vorträgen erwähnte er oft den Materialismus als Weltanschauung und auch als Lebensform. Er sagte, dass wir in Zukunft vermehrt seelische Erkrankungen zu erwarten haben, weil die Kultur immer mehr zu einer materialistischen Einseitigkeit tendiere. Er sprach sogar von epidemischem Auftreten psychischer Erkrankungen. Da kann man sich fragen, ob zum Beispiel die immer häufigeren Erschöpfungszustände (Burn-out), die Traumafolgestörungen und depressiven Erkrankungen erste Vorboten solcher Epidemien sind. Es war sein Ansatz, dass wir in Zukunft dringend eine prophylaktisch wirksame Pädagogik benötigen, um den einseitigen Materialismus mit seinen sozialen Folgen zu überwinden.
C. P.: Aber was heißt in diesem Kontext Materialismus?
Dr. W. Rißmann: Zunächst ist das die innere Überzeugung, dass es nur eine materielle Welt gebe, während spirituelle und religiöse Erfahrung sowie die Annahme einer übersinnlichen Welt lediglich naiven Glauben und subjektivistische Illusion darstellen. Die heutige Naturwissenschaft ist weitgehend dieser Meinung und daher materialistisch bestimmt.
Die praktische Konsequenz einer materialistischen Weltanschauung kann zu teilweise übertriebener Technisierung im alltäglichen Leben führen, verbunden mit einem materialistisch anmutenden Besitzanspruch und einseitigem Wohlstandsdenken. Damit schwinden kulturelle und innere Werte.
ein innerer Rückzug, kein Vertrauen mehr in das unmittelbare Erleben und auch kein Vertrauen in spirituelle Werte
C. P.: Also was man mit dem Schlagwort Entfremdung beschreiben könnte?
Dr. W. Rißmann. Ja, das hängt damit zusammen. Die Medien mit ihrer virtuellen Wirklichkeit verstärken diesen Vorgang. Die Wahrnehmung der Natur, vor allem auch die soziale Wahrnehmung wird immer schwächer. Damit ist innerer Rückzug verbunden, man hat kein Vertrauen mehr in das unmittelbare Erleben und auch kein Vertrauen in spirituelle Werte. Meinem Eindruck nach leiden wir alle an dem praktischen Materialismus, also an der Überfülle des Materiellen, in dem wir ersticken, bis dahin, dass wir nicht mehr wissen, wo eigentlich der ganze materielle Abfall (v.a. Plastik) entsorgt werden soll.
Bei seinen späteren Vorträgen wies Steiner darauf hin, dass bei den psychischen Erkrankungen das seelische Milieu und auch die Entwicklung in der Kindheit eine große Rolle spielen.
Erst ab 1920 sprach er in den Vorträgen für Ärzte von Ursachen und Bedingnissen im ganzen Leib, nicht nur im Gehirn. Es handle sich eben nicht nur um Gehirnkrankheiten, sondern um Störungen des ganzen Menschen. Das Primäre liege in den Vorgängen des Stoffwechsels, genauer gesagt in den Prozessen der Organbildung der großen Organe Lunge, Leber, Niere und Herz. Bei den Veränderungen im Gehirn – so Steiner – liegen sekundäre Störungen vor. Vor etwa 30 Jahren ist in den USA der „Embodiment-Ansatz“ entstanden, der besagt, dass nicht nur das Gehirn, sondern der ganze Körper bei einer seelischen Erkrankung betroffen ist. Insofern war Steiner vor 100 Jahren einer der ersten, der den gesamten Leib als Grundlage seelischer Störungen betrachtete und dafür konkrete therapeutische Maßnahmen empfahl.
C. P.: Wo steht heute die anthroposophische Psychiatrie?
Dr. W. Rißmann: Es beginnt mit der Frage, wie wir in der Therapie methodisch ansetzen sollen. Zunächst geht man wie in der konventionellen Psychiatrie von den psychischen und körperlichen Symptomen aus und versucht dann in einem zweiten Schritt, sich ein menschenkundliches Bild von dem Zustand des Patienten zu machen, also nicht nur die psychiatrischen Symptome und die Diagnose ins Auge zu fassen, sondern zu schauen, welche menschenkundlichen Unregelmäßigkeiten und Störungen vorliegen.
die bewussten Vorgänge und die unbewussten Prozesse
Zum Beispiel: in welchem Verhältnis stehen die bewussten (=kognitiven) Vorgänge des „oberen“ Menschen (Sinneswahrnehmung, Denken, Erinnerung) zu den unbewussten Prozessen des „unteren“ Menschen (Verdauung, Stoffwechsel, Regeneration, Ausscheidung)? Und wie sind die drei Seelenfähigkeiten Denken, Fühlen und Wollen ausgeprägt?
Dieses menschenkundliche Bild ist die Grundlage für alle therapeutischen Maßnahmen. Dabei stehen meist seelische Maßnahmen am Anfang der Behandlung, also Gespräch oder eine gezielte Psychotherapie. Aus der anthroposophischen Menschenkunde ergeben sich dann ergänzende und erweiternde Anregungen für die Psychotherapie. Dazu kommen noch die verschiedenen Kunsttherapien, also Therapeutisches Plastizieren, Malen, Musik- und Sprachtherapie.
Neben der Behandlung von der Seele aus sind die körperlich orientierten Therapien eine weitere Hilfe. Das sind anthroposophische Arzneimittel, äußere Anwendungen wie z.B. Wickel, Auflagen, Bäder und vor allem Fußbäder. Erst wenn dieses ganze Panorama nicht ausreicht, sind auch Psychopharmaka indiziert. Natürlich können die speziell anthroposophischen Maßnahmen oft die Psychopharmakotherapie nicht ersetzen, vor allem bei mittelschweren und schweren Zuständen. Aber da sehe ich jetzt keinen Nachteil, sondern wenn man mit diesen ergänzenden Maßnahmen gut umgeht, kann man doch viel erreichen.
C. P.: Das ist aber alles nur in der Klinik machbar?
Dr. W. Rißmann: Nein. Anthroposophische Psychotherapie lässt sich natürlich auch ambulant durchführen, die Kunsttherapien und die äußeren Anwendungen meist auch. Ich verordne häufig einfache Anwendungen wie z.B. Fußbäder oder Auflagen auf bestimmte Organe, die die Menschen selber zu Hause durchführen können. Nicht zu vergessen sind die Ergotherapie und Sozialtherapie, wo wir erweiterte Gesichtspunkte haben durch die anthroposophische Psychiatrie. Zum Beispiel bei der Ergotherapie ist das der ganze Bereich der Gartentherapie und bestimmter handwerklicher Tätigkeiten.
Für die Sozialtherapie gibt es seit den 80-er Jahren eine ganze Reihe von anthroposophischen Einrichtungen, also Reha-Einrichtungen für psychisch Kranke, die auch in die reguläre akute Versorgung integriert sind. Wir haben teilstationäre Einrichtungen und vor allen Dingen eine erhebliche Anzahl von sozialtherapeutischen Einrichtungen zur Langzeitbehandlung. Da waren anthroposophischen Einrichtungen in den 70er, 80er Jahren führend und hatten Pioniercharakter, das ist vielfach nicht bekannt. Auch hier im norddeutschen Raum gibt es eine ganze Reihe von solchen Einrichtungen.
die individuelle Suchbewegung der Betroffenen unterstützen
C. P.: Was ist der Sinn seelischer Erkrankungen, wie kann man das sehen?
Dr. W. Rißmann: Wenn jemand mit einer schweren Erkrankung lebenslang zu kämpfen hat, entsteht die Frage, was das für ihn bedeutet. Das gilt für seelische Erkrankungen gleichermaßen wie bei körperlichen Leiden. Da kann man nicht allgemeine Ratschläge geben, sondern nur die individuelle Suchbewegung der Betroffenen unterstützen. Ich habe Menschen kennengelernt, die gerade durch eine schwere, langjährige Erkrankung neue Formen von Bescheidenheit, Ergebenheit und Geduld entwickelten. Sie haben eben nicht resigniert oder sich das Leben genommen, sondern sagten: ja das ist eben jetzt meine innere Lebensaufgabe. Das ist für mich sehr eindrücklich. Menschen mit depressiven Störungen berichten manchmal, dass sie nach Abklingen ihrer Erkrankung eine vertiefte Sicht auf das Leben erhalten haben.
Der Prozess der Sinnsuche geschieht in der Stille, man nimmt ihn von außen kaum wahr. Da bin ich immer sehr, sehr dankbar, wenn so etwas bei einzelnen Menschen möglich ist. Manche Menschen wachen auch für spirituelle Fragen auf. Allerdings sollte man den Betroffenen nie die Frage stellen, welchen Sinn ihr Leiden habe; viele fühlen sich dann missverstanden oder attackiert. Denn sie erleben ihre Erkrankung lange Zeit als sinnlos. Man muss warten, bis die Betreffenden selber die Frage stellen, und dann mit ihnen gemeinsam an dieser Frage arbeiten, denn als Therapeut kenne ich den Sinn zunächst auch nicht. Hier gilt Zurückhaltung und gemeinsame Suche auf Augenhöhe.
Am 16. September, 19 Uhr, Rudolf Steiner Haus
Seelische Erkrankungen
Verständnisgrundlagen und therapeutische Konzepte der Anthroposophischen Medizin
Buchvorstellung: Der Psychiater Wolfgang Rißmann im Gespräch mit Ulrich Meier
In dem vorliegenden Buch, das im Salumed Verlage erschienen ist, findet sich eine weitgespannte Überschau über die Grundlagen der Psychiatrie, erweitert durch Aspekte der Anthroposophie und Anthroposophischen Medizin. Eine solche Zusammenschau eröffnet neue therapeutische Perspektiven durch anthroposophische Arzneimittel, äußere Anwendungen, Bewegungstherapie (u.a. Heileurythmie), Psychotherapie, Seelsorge, Kunst-, Ergo- und Sozialtherapie.
Eintritt: 15,-, ermäßigt 10,-
