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Religiöse Erfahrung zwischen Traum und Schrift
Zum Werk des Schriftstellers Patrick Roth
Artikel von Ulrich Meier
Am 4. Juli 2007 kommt der deutschamerikanische Schriftsteller Patrick Roth nach Hamburg und liest im Friedrich-Rittelmeyer-Saal der Christengemeinschaft aus seinem Buch „Magdalena am Grab“. Ulrich Meier hat die Bücher des außergewöhnlichen Literaten gelesen und ist seinen Methoden im Umgang mit inneren Erfahrungen nachgegangen.
Die Christus-Trilogie
Voller Stolz und Trotz erzählt der alte Diastasimos den beiden jungen Abgesandten der Apostel, dass er Christus gegenübergestanden habe, aber von seinem Aussatz nicht geheilt werden wollte, dass er sich dem Heilerwillen Christi verweigert habe, weil ihm der Glaube an die Gerechtigkeit Gottes abhandengekommen war. Patrick Roth beginnt seine Erzählung vor dem Auftauchen des Alten mit folgenden Worten:
„Ich sehe eine Höhle. Und darin, während draußen in den Gassen der Hügel die Springflut Regens übers Wild-Trockene hinschießt, seh ich Glut. Und gut zwanzig Schritte in die Sicherheit ihres dunklen Überhanges hinein, liegt gesammelt die Glut der Höhle. Zusammengesammelt, steinumringt, windumstoben. Und es hört Regen die Höhle. Und staut sich das Echo hinten, wohin sie dem Glutschein entkommt und dunkler wird und dunkelt, unsichtbar macht, was hier aufhält die Höhle. Aber fernher kam Donner.“
Sein Unglaube ließ Diastasimos seiner Stärke gegenüber dem duldsamen Gast in der Einsiedlerhöhle sicher sein, denn er wusste, dass ohne seinen Anteil der Öffnung im Glauben keine Heilung möglich wäre. Eine ganze Nacht lang redet er nun, im Jahre 37 nach Christus, auf seine beiden Besucher ein und bringt sie an die Grenze des Unvorhersehbaren, das ihn selbst am Beginn der Karwoche ereilt hat. In seiner Christusnovelle „Riverside“, seinem 1991 erschienenen Prosadebüt, führt Patrick Roth mit einer ungewöhnlich dichten und zugleich modernen Sprache seine Leser schließlich auf eine Anhöhe, von der Diastasimos die nächtliche Szene erlebt, in der sich das Geschehen wandelt. Er sieht von oben, wie der als Knecht verkleidete Jesus Christus – von seinem Begleiter Judas geschlagen, damit sie von den römischen Soldaten nicht entdeckt würden – den Aussatz auf sich genommen hatte, indem er mit ihm, dem störrischen Einsiedler trotz des Abstands eins geworden war. Sieht den Hauptmann ihn aufrichten und zugleich aufgerichtet werden:
„Und sah, was ich erfahrend in eins geglaubt, daß die Umarmung des Hauptmanns mich reinigte, und daß der so-umarmt-Wiederumarmende dem Soldaten vergab, und der Knechtgott mir dadurch bewies, wie wir fernhin heilen und fernhin geheiligt werden, durch solche Umarmung, auch wider Willen.“
„Riverside“ meint vom ersten Anfang im Schaffen dieses Erzählers das Ufer des Stroms, an dem der von der Wüste Kommende dem Ungeheuren des Lebendigen begegnet, das ihm nahelegt, den sicheren Boden des Ufers zu verlassen und sich auf Ungewisses einzulassen.
Wer ist Patrick Roth?
1953 in Freiburg im Breisgau geboren, wächst er in Karlsruhe auf und zieht 19jährig, nach seinem Abitur, nach Paris. Nach einem Studienjahr an der Alliance Française folgen zwei Semester in Freiburg (Anglistik und Romanistik); es entstehen seine ersten literarischen und filmischen Arbeiten. Als 22jähriger kommt Patrick Roth 1975 als DAAD-Stipendiat nach Los Angeles, betreibt dort am Cinema Department der University of Southern California (USC) seine anglistischen Studien und frönt seiner Leidenschaft: dem Film. Seither lebt er in Los Angeles, als Drehbuchautor, Regisseur, Filmjournalist, und »als Schriftsteller, der Kassiber heim nach Deutschland schickt. Manuskripte wie Mysterien, die nicht preisgeben, ›was wirklich ist‹.« (Esther Röhr)
1992 wird „Riverside“ mit dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet. 1997 erhält Patrick Roth den Preis der Stiftung Bibel und Kultur, weitere Literaturpreise folgen. Im Wintersemester 2001/2002 hält er die Frankfurter Poetik-Vorlesungen „Ins Tal der Schatten“, 2005 erscheinen die Heidelberger Poetikvorlesungen unter dem Titel „Zur Stadt am Meer“, in denen er seine Traumpoetologie entwickelt. Angeregt von Autoren wie Joseph Campbell, C.G. Jung und Edward Edinger hat er sich einen Umgang mit seinen Träumen erarbeitet, die zur Quelle seines Erzählens im Schreiben werden. Auf die Frage, was für ihn den Reiz der biblischen Themen ausmache, antwortet er in einem Interview der Zeitschrift „Kirche + Leben“ am 18.9.2005:
Die veränderte Sicht auf das Alltägliche
„Reiz ist das falsche Wort. Vielmehr war es in den vergangenen 20 Jahren so, dass ich von Bildern ergriffen wurde, die über Träume zu mir kamen. Die konnte ich nicht abschütteln und musste ihnen nachgehen. So entstanden die ersten Bücher. Diese Bilder und die Arbeit an ihnen – die veränderte Sicht aufs Alltägliche, in dem sie ebenfalls verborgen liegen -, verschafften mir auch einen persönlichen Zugang zur Bibel. (…) Aber der Traum kommt vor der Schrift. Sie lebt aus ihm. (…) Statt sie von außen zu betrachten, komme ich von innen, betrachte sie so neu.“
Im November 2006 wurde der Film „In My Life – 12 Places I Remember“ im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Patrick Roth stellt als Stadtschreiber der Stadt Mainz die Orte vor, an denen er in den vergangenen 30 Jahren in Los Angeles gelebt und gearbeitet hat. Vor einem der Häuser weist er auf ein Zimmer und erzählt, dass er dort den Traum hatte, von dem aus Vieles seinen Anfang genommen hätte. Er würde jedoch über diesen Traum nicht sprechen. Was er aus dieser Quelle schöpft, hat er zunächst in die beiden weiteren Teile der Christus-Trilogie gegossen. 1993 erscheint „Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten. Seelenrede“. Die Erzählung spielt 1992 im Westen der USA.
„In einer mörderischen Dezembernacht, sieben Jahre vor der Jahrtausendwende, kam Johnny Shines bei starkem Regenfall über die Furt des ausgetrockneten Flusses nach Blade, seinen Geburtsort, ein auf ehemaliger Flußinsel gelegenes Wüstenkaff am Nordwestrand der Mojave, das er vor mehr als zwanzig Jahren verlassen hatte.“
Eine Nachtmeerfahrt in die Vergangenheit
Der tragische Held war durch die Gegend vagabundiert, immer wieder angezogen von Beerdigungen, bei denen er sich unter die Trauergesellschaft mischt, um sich plötzlich an den Sarg zu drängen, ihn aufzubrechen und dem Leichnam zuzurufen „Steh auf!“ Besessen von dem Christuswort „Weckt die Toten auf!“, muss er immer wieder erfahren, dass sein Wort nicht genügt, dass Gott ihm die Kraft nicht schenkt, mit der er die Toten erwecken könnte. Die Menschen haben ihn schließlich in eine Gefängniszelle gesperrt, in der sich ein seltsamer Dialog mit einer Frau entspinnt, eine Nachtmeerfahrt in die Vergangenheit des Johnny Shines, der sich selbst des Mordes an einer Frau bezichtigt und ihr auf unerwartete Weise neu begegnet.
Der dritte Teil der Christus-Trilogie erscheint 1996 unter dem Titel „Corpus Christi“. Inhalt sind die Ereignisse der Osterwoche, die Roth in das Jahr 30 datiert. Der ungläubige Thomas, hier Judas Thomas genannt, ebenfalls im Dialog mit einer Frau, will den Leichnam Jesu finden. Tirza, wie die junge Frau aus Damaskus heißt, verspricht ihm Aufschluss, berichtet gar, dass sie sich mit dem Gekreuzigten in das Felsengrab habe einschließen lassen. Aber Thomas gelingt es nicht, „die Wahrheit zu wissen“, der Kern von Tirzas Erfahrung entzieht sich ihm. Erst als er loslässt und „hinter die Spuren“ Christi taucht, wird er fündig. Erst als er sich selbst ins Feuer der Sache wirft, dringt er ins letzte Geheimnis vor.
Noch einmal: Wie kommt ein Schriftsteller heute zu einem so unkonventionellen und mutigen, gleichzeitig aber für religiöse Erlebnisse weckenden Umgang mit den Bildern der Bibel? Anlässlich der Veröffentlichung von „Starlite Terrace“ wurde er von der Rhein-Neckar-Zeitung im Oktober 2004 gefragt:
„Warum spielen Bibelstellen – beispielsweise in ihrem jüngsten Buch „Starlite Terrace“ – eine so große Rolle?“
Patrick Roth antwortet:
„Nicht wegen der Bibel selbst oder weil ich ein Theologiestudium hinter mir hätte. Weil ich in Amerika zunächst ganz stark isoliert war und dort bis zum Beginn der achtziger Jahre – auch wegen des Sprachenproblems – allein lebte, hatte ich seinerzeit ganz entscheidende Träume. (…) Und da wurde mir klar, woher die Bilder meiner Träume kamen: Man findet sie in der Bibel wieder. Es handelt sich um die Bilderwelt, mit der sich unsere westliche Welt bis zu einem gewissen Grad identifiziert hat – auch im Hinblick auf die Idiome und auf unsere Sprache infolge der Luther-Übersetzung der Bibel. Ich komme aber nicht von oben – von einem Dogma oder einer Theologie her -, sondern von unten oder auch von innen.“
Die weiteren Bücher
In seinem Buch „Meine Reise zu Chaplin. Ein Encore.“ (1997) dokumentiert Roth seine Liebe zum Film im Allgemeinen und zu Charlie Chaplin im Besonderen. Anknüpfend an ein autobiografisches Erlebnis des 17-Jährigen nähert sich der Erinnernde jenes Gefühls, das einem die Verehrung für einen großen Zeitgenossen einträgt. Mit liebenden Augen sieht er auf die Erzählkunst des großen Mimen, der ihm ein Foto mit Widmung überlässt.
„Die Nacht der Zeitlosen“, 2001 erschienen, würdigt ein weiteres Stück Zeitgeschichte. Die Nacht vor dem Erdbeben vom 17. Januar 1994 versammelt eine ganze Reihe von Geschichten und Gestalten, Träumern, Neugierigen und Suchenden. Fünf deutschamerikanische Stories umkreisen spielend Dämmerung und Morgengrauen, unser Ende und unseren Neubeginn.
In „Starlite Terrace“ (2004) gibt ein Ort, ein altes Apartmentgebäude um einen beleuchteten Swimmingpool, den Rahmen von vier Geschichten, die vier Bewohnern dieser Gemeinschaftswohnanlage gewidmet sind. Auch in diese Welt bricht das Unerwartete und verwandelt auf seltsame Weise die Wirklichkeit des Alltäglichen.
Nach den beiden schon erwähnten Büchern mit den Nachschriften der Poetikvorlesungen in Frankfurt und Heidelberg sind in jüngster Zeit zwei Bändchen in der Insel Bücherei erschienen:
„Magdalena am Grab“ erzählt von der Bemühung des jungen Filmstudenten Patrick Roth, die ersten 18 Verse des 20. Kapitels aus dem Johannesevangelium mit einer Reihe von Mitstudenten für eine Aufführung zu bearbeiten. Die junge aber unbekannte Monica Esposito soll die Maria Magdalena darstellen und aufgrund einer Verwechslung trifft man sich zu zweit in einer unbewohnten Villa am Mulholland Drive. Zug um Zug versuchen sich Regisseur und Darstellerin, die Szene am Ostermorgen zu erschließen – und gelangen dabei unerwartet zu tiefen Einsichten über das Verhältnis von Gott und Mensch.
Zuletzt erschien 2006 die Weihnachtsgeschichte „Lichternacht“. In der Zeit des Wartens auf die Braut erzählt der Bräutigam seinen Gästen, wie er vor 25 Jahren schon einmal in einer Weihnachtsnacht mit dem Ring in der Tasche auf dem Weg zu einer Frau war. Damals konnte er nicht über die Brücke auf die andere Seite des Flusses gelangen.
»Bist du auf Unendliches bezogen oder nicht?«
Aus der eigentümlichen Perspektive des Mauthäuschens, in das er vor dem Schneesturm geflüchtet war, sieht er schließlich sich selbst, wie er tot neben dem Auto liegt und von der Frau seiner Träume an der Hand genommen wird. Hier gelingt es Patrick Roth wieder einmal in berührender Weise, in kleinen, alltäglichen Ereignissen die große Frage sichtbar werden zu lassen, die C. G. Jung als Kriterium des Lebens nennt: »Bist du auf Unendliches bezogen oder nicht?« In diesem Sinne wird die Erwartung der Braut zu einer Vorbereitung auf die weihnachtliche Hochzeit des Menschen mit Gott.
Vorlesen
In einem Interview, das Hans-Christian Zehnter und Georg Maier im Juli 2004 für die Zeitschrift „Das Goetheanum“ geführt haben, kommen die Gesprächspartner auf die besondere Qualität des Vorlesens zu sprechen. Patrick Roth arbeitet an einem Text so lange, bis er ihm lesbar erscheint.
„Lesbar heißt für Roth: Er muss vorlesbar sein. Unvorgelesen ist das Geschriebene nur die Hälfte, vollständig wird es erst durch den Zuhörenden; denn in ihm sollen ja die Bilder entstehen, vor ihm, beim Lesen über der Seite oder im Raum.“
Als ich im November 2004 eine Lesung von Patrick Roth in Hannover miterleben konnte, war da nicht nur die Freude des Autors am Vorlesen zu erleben. Roths Intention wurde lebendig, dass die in ihm Wort und Schrift gewordenen Erfahrungen Hörer und Leser dazu anregen möchten, sich ihrerseits nicht mit den scheinbaren Gewissheiten des Alltags und der religiösen Tradition zufrieden zu geben, sondern sich selbst dem zwar unerwarteten, aber umso eindrucksvolleren Bereich der religiösen Erfahrung im eigenen Inneren zuzuwenden.
Termin der Lesung in Hamburg: 4. Juli 2007, 19:30 Uhr. Ort: Die Christengemeinschaft, Johannes-Kirche, Friedrich-Rittelmeyer-Saal, Johnsallee 15-17 (Eingang über Heimhuder Str.). Eintritt frei, Spende am Ausgang erbeten.
Am Nachmittag des gleichen Tages findet eine Lesung der zweiten Heidelberger Poetikvorlesung von Patrick Roth für die Studentinnen und Studenten des Hamburger Priesterseminars statt.
Ein weiterer Veranstaltungshinweis des Suhrkamp Verlages:
Tagung vom 29. 6. 2007 bis 30. 6. 2007 im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Schillerhöhe 8 – 10: „Ins Tal der Schatten – Patrick Roths Schreiben zwischen Hölderlin und Hollywood“
Referenten u. a. Michael Braun, Jochen Hörisch, Oliver Jahraus, Gerhard Kaiser, Dirk von Petersdorff, Susanne Sandherr, Lothar van Laak, Eva Wertenschlag
Vorverkauf: Die Tagung ist öffentlich und kostenlos. Anmeldung: