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Lernen und Leben aus Begeisterung
Der „Malort“ Arno Sterns
Interview mit Viola Rapelius, Kunstlehrerin
Braucht man ein Kind nicht in die Schule zu schicken, wenn man darauf vertraut, dass sich die Entwicklung des Kindes von allein vollzieht? Werden in der Bildungslandschaft, bei uns in der Folge der Pisa-Studien, die Kinder so in eine Richtung gezogen, dass sie sich lediglich den Erfordernissen der Gesellschaft anpassen?
Arno Stern lässt seit 70 Jahren Kinder in seinem „Malort“ malen. Seine Mission ist das Vertrauen in die Entwicklung des Kindes: Man muss nicht von außen „ziehen“, sondern darf sicher sein, wenn man für das Kind einen Raum schafft, dass die Entwicklung von alleine passiert, und zwar durch einen kreativen Prozess. Aus diesem unendlichen Vertrauen in diese Entwicklung hat Arno Stern seinen Sohn André nicht in die Schule geschickt. Heute ist André Stern als Freibildungsexperte ein gefragter Referent, der sich international an der Seite von zukunftsorientierten Akteuren der Bildungslandschaft bewegt.
Die Bergstedter Kunstlehrerin Viola Rapelius hat Vater und Sohn kennengelernt und eine Ausbildung am Malort Arno Sterns gemacht.
Interviewpartnerin: Viola Rapelius, seit 15 Jahren Kunstlehrerin in der Rudolf Steiner Schule Bergstedt für die Oberstufe und Abitur und 4 Jahre tätig als Kunsttherapeutin. Ausbildung zur Erzieherin, Töpferin; danach Studium der Kunsttherapie und Pädagogik. Ausbildung im „Malort“ bei Arno Stern in Paris.
Christine Pflug: Arno und André Stern – in und aus welchem Kontext sind diese beiden, Vater und Sohn, populär?
Viola Rapelius: Der Vater Arno Stern betreibt seit 70 Jahren seine Forschung, d. h. er malt in dem „Malort“ mit den Kindern und hat die „Formulation“ entdeckt. Schon in den 60-er Jahren wurden die Medien auf ihn aufmerksam und bezeichneten das als „Kinderkunst“. Dagegen hat er sich aber abgegrenzt: „Kunst dient dazu, dass man eine Kommunikation mit der Außenwelt aufbaut“ und im „Malort“ malen die Kinder nach einer inneren Spur, die aus ihnen heraus möchte. Aktuell ist 2013 der Film „Alphabet“ in den Kinos angelaufen. Dieser Film zeigt anhand von vielen Facetten auf, was in der Bildungslandschaft passiert, wie bei uns in der Folge der Pisa-Studien die Kinder in eine Richtung „gezogen werden“: Sie müssen viel auswendig lernen und sich an die Erfordernisse der Gesellschaft anpassen. Der kreative Prozess, den sie im Spiel haben, geht verloren: „Ich mache erst mal was und schaue, was daraus wird; daran entwickle ich dann mein eigenes Ziel, das ich vorher vielleicht gar nicht kannte.“ Gerald Hüther spricht in diesem Film über die innere Entwicklung des Menschen; am Ende des Filmes kommt Arno Stern mit seinem Malort zu Wort, der an den kreativen Prozess des Kindes anknüpft. Er gibt seit gut 70 Jahren den Kinder in seinem „Malort“ die Möglichkeit am „Malspiel“ teilzunehmen – jeden Tag ist er dort, bis auf die Ferien. Er ist mit seinen 90 Jahren aktiv, am forschen, klar und auch streng mit sich selbst. Es gibt Menschen, die im Alter von 6 Jahren angefangen haben dort zu malen und immer noch dabei sind. Seine große Hoffnung ist, dass seine Forschung noch mehr von der Wissenschaft anerkannt wird.
Sein Sohn André ist durch seine Initiativen und seine weltweiten Vorträge auf Bildungssymposien sehr ausgebucht.
Man muss nicht von außen „ziehen“
C. P.: Trägt er weiter, was sein Vater veranlagt hat?
V. Rapelius: Seine Mission ist das Vertrauen in die Entwicklung des Kindes: Man muss nicht von außen „ziehen“, sondern darf sicher sein, wenn man für das Kind einen Raum schafft und dies sehr gegenwärtig begleitet, dass die Entwicklung von alleine passiert, und zwar durch einen kreativen Prozess oder durch das Spielen. Die Kinder machen dann immer weiter, wiederholen immer wieder und kommen in einen Flow. Meine Kinder haben zuhause beispielsweise gelernt Papierflieger zu falten, und nach einer Weile war die ganze Wohnung voll damit. Das ist normal und dann passiert was Neues und dieser Prozess ist abgeschlossen. Sie haben sich etwas für sie Wesentliches erarbeitet.
C. P.: Wie sind Sie selbst zu diesem Thema gekommen?
V. Rapelius: Einerseits hatte ich vor einem Jahr einen Artikel in der „Brigitte women“ gelesen, in der auf sehr schöne Weise die Beziehung von Arno Stern zu seiner Frau dargestellt wurde. Seine Frau hat den Malort auch zu ihrem Lebensthema gemacht; es waren beide, die ihre Kinder nicht auf die Schule schickten und stattdessen zuhause diese Arbeit leisteten.
Ich selbst habe festgestellt, dass die kreativen Fähigkeiten der Kinder, auch an der Waldorfschule, im Laufe der Jahre – ich arbeite seit 15 Jahren dort –abnehmen. Oftmals sitzen die Abiturienten vor mir und wollen nur wissen, wie sie eine gute Note zustande kriegen: „Sag mir, was ich dafür machen muss“. Wenn sie etwas von alleine machen, greifen sie auf Bilderwelten von IKEA, H&M oder ähnliches zurück und ihre eigenen Bilderwelten erlebe ich immer weniger. Mir ist wichtig, bei dem Einzelnen schöpferische Prozesse anzuregen.
Wir müssen in dem kleinen Kind die innere Bilderwelt stärken
Ein weiterer Anlass waren die Medienwochen, die ich gemeinsam mit Eltern unserer Schule und der Bildungswerkstatt initiiert habe. (Wir haben in unserer Schule die letzten Jahre im Unterricht keine Auseinandersetzung mit Medien gehabt.) Bei diesen Medienwochen waren Schüler, Lehrer und Eltern dabei, und wir wurden auch zu einem Symposium eingeladen. Das Résumé dieses Symposiums war für mich ein Satz: Wir müssen in dem kleinen Kind die innere Bilderwelt stärken, so dass es genug Kraft hat, wenn es auf die Medienwelt zugeht, dort nicht „reingezogen“ zu werden. Später habe ich bei Steiner nachgelesen, dass er über Kino – viel mehr gab es damals nicht – bemerkt hat: Er wolle diese Entwicklung nicht verurteilen, aber bei den „Lichtbildvorträgen“ müsse man schon verstärkt Kräfte aufbringen, um etwas auf die andere Waagschale, die geistige, zu legen – man wird sonst „ätherisch glotzäugig“, was für ein Ausdruck! Von Steiner selbst.
Das war mein Ansatz, dass ich diesen inneren (kreativen) Raum wirklich kräftig machen will.
C. P.: Sie haben dann eine Ausbildung bei Arno Stern gemacht?
V. Rapelius: Ich habe eine Ausbildung als „Dienende im Malspiel“ gemacht. Das war sehr intensiv, weil Stern ein unglaublich phänomenologisch klarer Mensch ist. Er ist ein Forscher und geht von dem aus, was er sieht. Beispielweise hat er 18 Farben auf dem Paletten-Tisch, der in der Mitte des Raumes steht. Er hat die Farben ausgewählt, zu denen die Kinder greifen, – die anderen hat er einfach weggelassen.
C. P.: Haben Sie die Notwendigkeit dieser Malweise an den Oberschülern erlebt?
V. Rapelius: Ja, ich habe einfach bemerkt, dass es nichts nützt, wenn ich mit den älteren Schülern arbeite und sie als Jüngere keine Grundlage erhalten haben. Wenn man es nicht schafft, bei den Kleineren einen Raum anzulegen, der kreativ und geschützt ist, kann ich bei den Älteren nur schwer etwas erreichen. Bei Arno Stern fangen sie meisten mit 6 Jahren an, aber er lässt auch schon ganz kleine Kinder kommen, die dann nur kurz malen.
C. P.: Das Wesentliche in der Forschung Arno Sterns ist die von ihm so benannte „Formulation“. Was ist das? Könnte man das auch als Urbilder bezeichnen?
V. Rapelius: Die Formulation sind Grundformen, die bei jedem Menschen veranlagt sind und sichtbar werden. Arno Stern ist in der Welt herumgereist und hat überall Kinder malen lassen und festgestellt, dass diese Formen weltweit von Kindern gemalt werden und sich nach einem vorbestimmten Ablauf entwickeln. In seinen jahrzehntelangen Arbeiten hat er bewiesen, dass uns Menschen ein genetisches Programm innewohnt, nach dem wir alle diese Formen und Gestalten entstehen lassen – gespeist u.a. aus unserer vorgeburtlichen Erinnerung.
Die Formulation ist ein Universalgefüge, welches sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten aus 70 Bestandteilen, ähnlich dem Vokabular einer Sprache, zusammensetzt.
Ein Element dieser 70 Bestandteile können wir beispielsweise sehen, wenn kleine Kinder anfänglich Punkte machen, indem sie mit dem Stift oder dem Pinsel auf das Papier draufhauen. In einer späteren Stufe entwickelt sich das Gekritzel.
C. P.: Ist die Formulation beispielsweise auch sichtbar in Knäule, Kreise, Kreuze etc.?
Die Kinder bedienen sich dieser Urelemente, um ihre individuelle Welt zu gestalten
V. Rapelius: Die Knäule, später Kreise kommen relativ am Anfang. Sie entwickeln sich und werden komplexer. Beispielsweise gibt es auf einer späteren Stufe im Hintergrund des Bildes ein „Gewimmel“. Die Kinder benutzen diese Formulationselemente, um ihre individuelle Welt zu gestalten: Das „Wimmeln“ ist Bestandteil der Formulation, die sich vielleicht bei einem Kind als eine Blumenwiese darstellt, bei einem anderen sind es viele Tiere oder Vögel. Es tauchen in Bildern Elemente auf, die von der Erklärbarkeit her keinen Sinn machen, aber als Urform drängen sie innerlich heraus. Beispielsweise ist auf einem Hausdach eine Art „Strich mit Strahlen“ gemalt, es geht aber nicht darum, dass das eine Antenne ist. Arno Stern zeigt als Beispiel ein von einem Mädchen gemaltes Haus; sie wohnt aber mitten in Paris in einem Hochhaus und hat nie so ein Haus gesehen, wie sie es gemalt hat. Wieso malt sie so ein Haus? Wieso malen alle Kinder so ein Haus? Was ist es, was alle dazu bringt, auf diese spezielle Weise ein Haus zu malen, oben drauf mit einem Schornstein im rechten Winkel? Auf jedem Bild ist auch eine Sonne – das muss sein.
Das kommt aus den Kindern raus. Wenn sie im Zirkus waren und das malen, bedienen sie sich dieser Urelemente. Es ist eine Spur, die bei jedem Kind heraus drängt und das erleben sie dann als sehr beglückend. Die Formulation entwickelt sich dann ein Leben lang weiter.
Die Formulation – ein Kulturerbe der Menschheit
Arno Stern wurde von der UNESCO eingeladen zu sprechen, dass diese Formulation genau wie Schrift ein Kulturerbe der Menschheit ist. Wenn es sich so entwickelt, dass ein Kind nicht mehr so malen darf, sondern wir nur noch nach Zahlen malen, Ausmalbilder benutzen oder Kinder nur noch am Ipad malen lassen, dann wird es das nicht mehr geben. Es gibt schon Kinder, bei denen das verschüttet ist.
C. P.: Wird die Formulation in der Kunst fortgeführt?
V. Rapelius: Arno Stern grenzt sie von der Kunst ab. Er sagt, dass die Kunst die Kommunikation nach außen sucht wie eine Sprache. Die Formulation entsteht von alleine in einem geschützten Raum, und die Bilder gehen nicht nach draußen, man macht es ganz für sich.
C. P.: Wie wenden Sie es in Ihrer Schule an?
V. Rapelius: Im Sommer 2014 habe ich die Ausbildung in Paris gemacht und habe danach die Gremien unserer Schule davon überzeugt, dass ich ein Forschungsprojekt machen darf in den Klassen 2 und 3, d. h. mit 71 Kindern. Seit dem 1. Dezember wurde der Malort an unserer Schule fertiggestellt, und ich male dort mit den Kindern. Da es so viele Kinder sind, habe ich schon unglaublich viel sehen und erleben dürfen, obwohl ich zuerst die Frage hatte, ob so etwas überhaupt im Kontext einer Schule möglich ist.
Meine zweite Frage war, ob ich wirklich diese Formulationen, die aus dem tiefen Wesen des Menschen kommen, erkennen kann. Arno Stern sagt, dass in den 50-ziger Jahren die Kinder ein Blatt hatten und sofort in diesen Formen drin waren. Seit den 70-er Jahren hat sich die Bilderwelt durch Comics, Computerspiele etc. und auch den Kunstunterricht verändert, und die Kinder kommen nicht so schnell in dieses wesenhafte Malen hinein. Sie bleiben am Plakativen hängen, seien es Comic-Figuren, HSV-Wappen, Malen nach Zahlenheftchen, oder Stereotypen aus dem Kunstunterricht. Arno Stern sagte, dass heute die Kinder manchmal ein Jahr brauchen, um das wieder los zu werden. Wenn ich nach Zahlenheftchen oder im Kunstunterricht lerne, ein Pferd zu malen, ist das perfekt und stereotyp, aber das Bild eines Pferdes, das aus meinem Inneren entsteht, ist viel lebendiger.
Insofern hatte ich die Frage, ob ich an dem Malort unserer Schule wirklich an die elementare Zeichenspur der Kinder herankomme. Aber es war einfach toll und faszinierend: Von den 70 Kindern waren es ca. nur 23 Kinder, die Schwierigkeiten hatten, diese plakative, vorgeformte Welt hinter sich zu lassen. Bestimmt 22 Kinder sind sofort in die Formulationsebene eingestiegen. Weitere 25 Kinder malen intensiv und spielen, bleiben aber sozusagen zwischen der vorgefertigten Bilderwelt und dem wesenhaften Malen in der Formulation hängen.
Das ist nach ein paar Wochen ein hervorragendes Ergebnis!
Die „Kammer der Wünsche“
Wir haben auch Kommentare von Kindern – ich habe mir einige aufgeschrieben. „Das ist bei mir wie beim Lego: wenn ich anfange, weiß ich, was ich mache. Dann baue ich was, und wenn es nicht funktioniert, dann baue ich es um.“ Das ist genau dieser kreative Prozess: Wenn ich anfange, weiß ich, was ich machen will, ich muss es aber weiter entwickeln, muss kreativ werden, wenn es nicht funktioniert. Ein anderes Kind: „Am liebsten wäre ich in mein Bild hineingekrabbelt.“ Die großen Schüler, die ich sonst unterrichte, kommen an diesem Raum vorbei und sagen: „Wann ist denn unsere Malstunde?“ Oder: „Das ist die Kammer der Wünsche.“ Das beziehen sie auf Harry Potter, bei dem es die „Kammer der Wünsche“ gibt. Sie merken, dass in diesem Raum etwas passiert.
Nie in die Schule?
C. P.: André Stern, der Sohn Arno Sterns, hat nie eine Schule besucht. Braucht man das nicht, wenn man an einem Malort malt?
V. Rapelius: Arno Stern hat durch die Erfahrungen, die er in seinem Malort machen durfte und das Finden der Formulation festgestellt, dass man nicht „ziehen“ muss, wie es das Wort „Erziehung“ vorgibt. Wohin ziehen? Weiß ich denn, wohin ich das Kind ziehen muss? Zu welchem Ziel? ….. Ich sollte stattdessen das Vertrauen haben, dass sich die Entwicklung des Kindes wie aus einer inneren Notwendigkeit heraus von allein vollzieht. Ich muss als Erwachsener da sein und sehr gegenwärtig sein, um dann die Schritte, die von dem Kind vorgegeben werden, zu unterstützen.
C. P.: Sie machen in Ihrer Schule in Bergstedt dazu eine Tagung. Was werden die Themen sein?
V. Rapelius: Ich wollte das, was ich als so wesentlich und beglückend erlebte, nach Bergstedt mitbringen. Das Ziel meiner Forschung ist, diesen Malort als festen Bestandteil in unsere Schule einzubringen. Um möglichst vielen Menschen diese Ideen zu vermitteln, habe ich mit der Bildungswerkstatt eine Trilogie herausgearbeitet. Wir zeigen den Film „Alphabet“, in dem Arno und André Stern vorkommen. Der Film stellt die Bildungslandschaft und den kreativen Prozess dar. Dann wird der Sohn André Stern selbst nach Hamburg kommen und innerhalb eines Vortrages über sein Leben, in dem er nicht in der Schule war, erzählen. Als drittes halte ich einen Vortrag über den Malort von Arno Stern und seine Forschung und auch meine eigene Forschung in Bergstedt.