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Kleine Märchen – große Wirkungen
Zum Beispiel aus Nordafrika, Asien und Südosteuropa
Von Micaela Sauber, Erzählkünstlerin und Initiatorin von „Erzähler ohne Grenzen"
Überall auf der Welt, wo Menschen sind, sind auch Märchen, Legenden, Mythen und Sagen entstanden und wurden über Jahrhunderte weiter erzählt. Ich möchte Sie zu einem kleinen Streifzug mit zwei Märchenerzählungen in den Mittelmeerraum und nach Rumänien einladen.
Es ist Sommer. Die Sehnsucht zieht mit der Sonne, den Wolken, dem Wind und den Sternen in die Ferne. Zahllos wie Sterne sind die Märchen der Welt. Der Himmel, an dem die Sterne leuchten, ist ihre gemeinsame Heimat und die Sternbilder der Fixsterne, der Charakter der Wandelsterne können vielfach gedeutet werden. Die Richtung und der Grund, von dem aus wir schauen, bestimmen die Sichtweise.
Auch dort, wo die digitalen Medien sich in den Seelen der Menschen längst breit gemacht haben, versammeln sich wieder Menschen, um direkt vom Mund ins Ohr Märchen zu erzählen, und zwar nicht nur für Kinder. In der Anthologie „Im Auge des Sturms – Schlüsselgeschichten von Erzähler ohne Grenzen“ berichten 35 AutorInnen von der Wirksamkeit des mündlichen Erzählens von Märchen.
Hier kommt eine Kostprobe: Der algerisch-französische Erzähler Naceur Aceval hatte sie auf einer Reise von „Erzähler ohne Grenzen“ durch Palästina den Menschen dort – Erwachsenen und Kindern – mitgebracht und sehr viel Resonanz erfahren. Tränen der Berührung durch den Spiegel der eigenen Situation aber auch Freude und Begeisterung kamen ihm entgegen.
Der Kaufmann und der Papagei
Da war einmal ein reicher Kaufmann, der lebte in einem großen Palast und sein einziger Geselle war ein kleiner Papagei. Dem hatte er einen herrlichen goldenen Käfig machen lassen, besetzt mit kostbaren Juwelen in allen Farben. Nur die edelsten Körner waren seine Nahrung und frisches Quellwasser wurde ihm mehrmals täglich gebracht und in seinen Käfig gestellt.
Dieser Papagei konnte sprechen, ja, er konnte sogar so sprechen, dass der Kaufmann sich richtig mit ihm unterhielt.
Eines Tages bereitete der Kaufmann sich auf eine längere Reise vor, die nach Indien führen sollte. Er teilte dies seinem Papageien mit und sagte: „Ich würde, wenn ich in Indien bin, einen Abstecher zu dem Wäldchen machen, in dem ich Dich einst einfing, um Dich in diesem schönen Käfig in mein Haus zu bringen. Möchtest Du, dass ich Deinen Verwandten eine Botschaft von Dir bringe?“
Da sprach der Papagei: „Nein, das nicht, aber ich habe einen Wunsch: Bitte nimm mich mit auf diese Reise und gib mir meine Freiheit dort, wo meine Verwandten leben!“
„Oh nein, mein Lieber, das werde ich sicher nicht tun. Deine Anwesenheit ist mir wichtiger als irgendetwas sonst. Ohne die Unterhaltungen mit Dir kann ich nicht leben. Und sieh, es geht Dir hier doch viel besser als in der Wildnis, wo Du deine Nahrung mit allenteilen musst und Hitze und Kälte ausgesetzt bist in der rohen Natur.“
Der Papagei erwiderte: „Dann nimm meinen Verwandten Grüße von mir mit. Erzähle ihnen, dass ich hier bei Dir in einem goldenen Käfig lebe, das beste Futter bekomme und Dein hoch geschätzter Kamerad bin.“
So machte sich der Kaufmann auf die Reise und kam auch eines Tages zu dem Baum, in dem sein Liebling gelebt hatte, bevor er ihn fing. Es war ein riesiger Lärm in dem Baum. Papageien kamen und flogen wieder fort, kreischten und krakehlten. Da stellte er sich hin, hielt die Hände in einem Trichter vor den Mund und rief: „He, Ihr Papageien, hört einmal zu!“ – da wurde es tatsächlich still im Baum. „Ich habe für Euch Grüße von Eurem Verwandten, der einst hier mit Euch lebte. Er lebt jetzt bei mir, weit von hier. In einem schönen Palast ist sein goldener Käfig und er ist mein liebster Geselle.“
Kaum hatte er dies gesagt, fiel ein Papagei vom Baum herunter, direkt vor die Füße des Mannes. Er lag auf dem Rücken und regte sich nicht. Der Kaufmann erschrak sehr und meinte, dies sei ein naher Verwandter seines geliebten Tieres, der über diese Nachricht so erschrocken war, dass er starb. Mit trübem Sinn machte er sich wieder auf den Heimweg.
Er ging sogleich zum goldenen Käfig und sprach: „Mein Lieber, ich habe leider keine gute Nachricht für Dich. Als ich die Grüße ausrichtete an Deine Verwandten, die sich alle in dem großen Baum tummelten, wo auch Du einst lebtest, fiel einer von ihnen tot vor meine Füße. Ich weiß nicht, ob es Deine Mutter, Dein Vater, ein Onkel oder Geschwister von Dir war. Das Tier war mausetot.“
Als der Papagei dies gehört hatte, fiel er von seiner Stange, lag am Boden des Käfigs auf dem Rücken, zitterte und war dann ganz still. Der Kaufmann erschrak sehr. „Nun ist mein armer Liebling auch gestorben aus Kummer über die Nachricht vom Tode seines Verwandten.“ Er holte ein seidenes Tuch, öffnete den Käfig, nahm behutsam den reglosen Körper heraus, wickelte ihn in das Tuch und ging damit in seinen Garten. Er nahm eine kleine Schaufel mit und legte das Tuch mit dem Toten auf den Boden. Unter einem Rosenbusch begann er zu graben. Da bemerkte er nicht, wie sich das Tuch bewegte. Der Papagei schüttelte das Tuch ab, spreizte die Flügel und flog auf einen kleinen Orangenbaum, der gerade blühte und herrlich duftete. Er stieß einen Freudenschrei aus. Der Kaufmann wandte sich um und sah sein geliebtes Tier. „Ach, Du lebst, wie wunderbar mein Lieber! Dann komm herunter auf meine Hand, damit ich Dich wieder in Deinen schönen Käfig trage!“
Der Papagei antwortete: „Oh nein, ich komme nicht wieder mit Dir, um mein Leben ohne meinesgleichen in Deinem goldenen Käfig zu verbringen. Ich danke Dir für die Botschaft meines Verwandten, der mir gezeigt hat, was ich tun muss, um die Freiheit wieder zu gewinnen.“
Da war der Kaufmann sehr traurig. Das einzige Wesen, mit dem er sich unterhalten hatte, ließ ihn allein zurück. Der Papagei aber hatte Mitleid mit ihm. Er putzte sich und ließ mit dem Schnabel eine schöne bunte Feder herunter segeln, direkt vor die Füße des Mannes. „Dies ist mein Gruß an Dich, bewahr sie wohl in Erinnerung an die Zuneigung, die Du zu mir zeigtest. Und nun, lebe wohl, ich kehre zurück zu den Meinen.“
Der Papagei spreizte die Flügel und mit einem Jubelschrei flog er fort.
In orientalischen Kulturen transportieren solche Geschichten in Bilder verpackte Botschaften mit heilsamem Potential, das tief wirken kann. Orientalische traditionelle Erzählungen haben eine andere Bildhaftigkeit und Struktur als unsere europäischen Märchen. Sie sind, wenn sie nicht der reinen Unterhaltung dienen sollen, Lehrgeschichten und viele stammen aus der Weisheit der Sufi, einer weit verbreiteten esoterischen Strömung.
Die europäischen Märchen kommen oft aus mittelalterlichen alchimistischen Quellen. Auch sie wurden geschaffen, damit die Menschen etwas aufnehmen, was ihnen Stärkung und Wegzehrung für ihre Lebenswege vermittelt. Da gibt es die klassischen Motive, die wir von den Brüdern Grimm kennen, wo oft jedes Wort mit einer tiefen Symbolik und deren Bedeutung übereinstimmt. Wenn solche Bilder aufgenommen werden, wirken sie in der Tiefe der Seele, im Unbewussten, und können bei Gelegenheit und zum rechten Zeitpunkt eine Lebenserfahrung bereichern. Für Kinder sind sie unerlässliche Seelennahrung. Auch Erwachsenen bieten europäische und manche ostasiatischen Märchen mit ihren vielfältigen Entwicklungsbildern und Urbildern (Archetypen) Spiegelungen an, die nicht vordergründig gemeint sind. Es tut gut, sie einfach aufzunehmen und wirken zu lassen. Die Deutungsmöglichkeiten sind vielschichtig. Als Erzählende gehen wir oft lange mit einem Märchen um, und es gibt immer wieder etwas zu entdecken und zu staunen, was der eigenen Lebens- und Welterfahrung entspricht.
So ist es auch mit der Erzählung vom Kaufmann und dem Papagei. Sie kann sehr tief wirken, wenn man sie in die Träume mitnimmt, in denen die Seele im Unbewussten an Heilungen arbeitet.
Ein von mir oft erzähltes Märchen aus Siebenbürgen in Rumänien soll hier ein kleines Beispiel einer Symbolik geben, die in ihrer Deutungsebene nicht mit physikalischen und physischen Gesetzen erklärbar ist. Hier ist das kleine Märchen aus der Sammlung von Joseph Haltrich:
Die Büffelkuh und das Fischlein
Eine große, große Büffelkuh kam einmal an ein kleines Bächlein, um zu trinken. Ihr Durst war unersättlich und sie soff und soff. In dem Bächlein aber lebte ein klein winziges Fischlein, das war immer sehr lustig, hüpfte und sprang und spielte mit den glitzerigen Steinchen. Es fürchtete nun, die Büffelkuh werde ihm alles Wasser aussaufen und rief ihr zu: „Warum säufst du so viel? Soll ich hier auf trockenem Sande bleiben und umkommen? Hör‘ auf! Nicht dass ich über dich komme!“
Die Büffelkuh brummte nur: „Boah! du kleiner Schnips! Vor Dir soll ich mich wohl fürchten! Gib Acht, dass ich dich nicht verschlinge!“ Und sie soff und soff – und soff das ganze Bächlein leer. Da ward das Fischlein zornig, sehr zornig, sprang heraus und verschlang mit einem Mal das ganze große Tier.
Nicht wahr, das geschah der Büffelkuh recht! Warum hat sie dem Fischlein auch alles Wasser gesoffen und es dazu noch verspottet!
Was für ein Wunderfisch wird uns hier gezeigt! Und wie genial verdichtet ist die Charakterisierung des Protagonisten! Ein Herr, der 20 Jahre zuvor diese Geschichte von mir gehört hatte, rief einmal an. Er erinnerte sich an eine Forelle und eine Kuh und bat um das Original des Märchens. Er wollte es seiner Geburtstagsgesellschaft erzählen, um angesichts gewisser Zustände in der Welt den Glauben an das Licht und die Kraft des Zornes zu stärken. Dieses kleine Märchen mitsamt seiner Resonanz ist unter vielen anderen in dem Buch „Im Auge des Sturms – Schlüsselgeschichten von Erzähler ohne Grenzen“ zu lesen. Auch der oben erwähnte Erzähler und Autor Aceval berichtet dort, und zwar von seiner Kindheit im algerischen Bürgerkrieg und seiner Märchen erzählenden beduinischen Mutter. Die erweiterte Neuauflage erscheint Ende Juni 2021 (Der Erzählverlag, ISBN 978-3-947831-29-6).
Micaela Sauber
www.micaela-sauber.de