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Kids und Internet
Erziehung zur Medienkompetenz
Vortrag von Uwe Buermann, Medienberater
Vielen Erwachsenen ist nicht klar, dass Kinder und Jugendliche heute in einer virtuellen Parallelwelt leben. Mit Plattformen wie Facebook oder SchülerVZ bilden sie soziale Netzwerke, in denen sie sich darstellen, austauschen, Fotos aller Arten veröffentlichen, aber sich auch schlecht machen und mobben. Durch dieses Nicht-Wissen der Erwachsenen ist eine Lücke zwischen den Generationen entstanden, gegen die wir ankämpfen müssen!
Das Internet bietet immense Möglichkeiten, aber es bedarf einer Reihe von Kompetenzen, um damit sinnvoll umgehen zu können. Insofern endet heute die Erziehungspflicht nicht in der realen Welt, sonder geht weiter in der virtuellen Welt.
Uwe Buermann hielt am 4. März den Vortrag: „Phänomen „Social networking“ – Chancen und Gefahren der sozialen Netzwerke in den verschiedenen Lebensaltern“ auf der Lehrertagung der Freien Waldorfschulen, die dieses Jahr an der Christophorus Schule und Rudolf Steiner Schule Bergstedt stattfand. Der Titel der Tagung hieß „Erziehung zur Wirklichkeit – Waldorfpädagogik im Medienzeitalter“
Uwe Buermann, geb. 1968, ist Gastdozent an den Waldorflehrerseminaren Kiel, Hamburg und Kassel, freier Medien- und Suchtberater und seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter des IPSUM-Instituts. Er hat die Homepage Erziehung zur Medienkompetenz ins Leben gerufen.
Es kann ein spannendes Erlebnis sein, wenn man als Erwachsener selber mal in die Welt von Facebook oder SchülerVZ*(Erläuterung siehe am Ende des Artikels) eintaucht, und man kann bei sich feststellen, dass es doch auch Spaß macht oder Verlockungen haben kann. Wir brauchen den Dialog mit der jüngeren Generation! Denn wir leiden alle darunter, dass in den letzen Jahren, was den Umgang mit den Medien betrifft, die Kluft zwischen den Generationen immer größer geworden ist. Es hat sich in unserer Gesellschaft und Kultur eine ungeheure Kunst des Nicht-Denkens ausgebreitet: Wir Erwachsenen schließen von unserer Medienkompetenz pauschal darauf, dass die nachfolgende Generation in der gleichen Weise damit umgeht und damit zurechtkommt. Ein Beispiel ist für mich der Umgang mit E-Mails: Wenn man beruflich oder privat mit Mails zu tun hat, ist es ein Ringen, wie man auf der einen Seite verhindert, dass wichtige Mails durch Spam-Filter verschwinden, ohne uns oder den Adressaten zu erreichen. Auf der anderen Seite will man möglichst wenig Zeit damit zubringen, Viagra-Werbemails, Partnersuche oder dubiose Geldgeschäfte aus Nigeria anzuschauen.
die Kunst des Nicht-Denkens bei Eltern, Lehrern, Bildungspolitikern
Es ist für mich eine ungeheure Kunst des Nicht-Denkens von Eltern, Lehrern, bis hin zu Bildungspolitikern, wenn bei den Konzepten zur Verwendung von Computern in Grundschulen dieser Bereich der Spams völlig ignoriert und ausgeblendet wird. Ich weiß von drei Grundschulen bei Kiel, dass Lehrer bereits in der zweiten Klasse Hausaufgaben per E-Mail versenden. Das sei ökologisch wertvoll, spare Kopierkosten, die Kinder könnten die Hausaufgaben nicht vergessen. Schulbuchverlage produzieren dafür die nötige Software. Die Konsequenz ist, dass achtjährige Kinder von ihren Eltern den Zugang zum Computer ermöglicht bekommen und auch den Zugang zum Internet, einschließlich einer eigenen E-Mail-Adresse. Bis in die neunziger Jahre galt, dass die Zusendung von Spam-Mails davon abhing, bei wie vielen Seiten man sich mit seiner eigenen Mail-Adresse registriert hatte. Wer also viel im Internet unterwegs war und seine Adresse häufig angab, bekam mehr Spam-Mails als alle anderen.
Diese Zeiten sind heute vorbei! Die Spam-Mail-Versender versenden heute ihr Mails an alle gmx-, google-, web, t-online-etc. Kunden. Egal, welchen Namen man bei diesen Anbietern eingetragen hat: Jeder bekommt die gleichen Werbe-Spam-Mails, unabhängig vom Alter und Geschlecht. Das heißt, dass auch die Kinder, die eine E-Mail-Adresse haben, dieselbe Spam-Mail bekommen wie die Erwachsenen. Es ist die bereits erwähnte Kunst des Nicht-Denkens, wenn sich Lehrer, Eltern, Bildungspolitiker einbilden, dass dem nicht so wäre.
Einige meinen, sie könnten das vermeiden, indem sie ihre Kinder anweisen: „Wenn du E-Mails bekommst von einem Absender, den du nicht kennst, dann darfst du die nicht öffnen. Die musst du löschen.“ Über den pädagogischen Wert einer solchen Aussage für Achtjährige braucht man eigentlich nicht zu diskutieren: Kinder in diesem Alter freuen sich grundsätzlich über Post, egal, ob im Postkasten ein Werbekatalog mit ihrem Namen drauf ist oder virtuelle Post. Natürlich werden sie die öffnen. Und wenn in so einer Mail steht: „Bitte hier klicken“ – dann braucht man als Erwachsener sich nicht einzubilden, dass die Kinder da nicht drauf klicken.
Wir müssen ankämpfen gegen diese Kunst des „Nicht-Denkens“ seitens der Erwachsenen! Wir müssen ankämpfen gegen die Lücke zwischen den Generationen!
Es gibt keine guten und schlechten Medien
Dabei gilt es, mit einer Sache endgültig aufzuhören: die Unterteilung in gute und schlechte Medien! Das ist absurd, vor allem in Bezug auf das Internet. Es ist nicht die Frage, ob Facebook gut oder schlecht ist. Wir haben es in den letzten Monaten immer wieder erlebt: Eine Bildungselite in den Ländern Nordafrikas, in Tunesien und Ägypten, die nicht zu den 40% Analphabeten gehört, hat mit Internet, Twitter, Facebook viel bewegt. Sie haben Prozesse in Gang gebracht, von denen wir hoffen dürfen, dass sie zur Demokratie führen. Das ist ein positives Beispiel, von dem auch wir etwas lernen können. Anstatt immer nur zu chatten, flirten, dissen* und zu mobben, können wir auch hier Demokratisierungsprozesse auf den Weg bringen. Es liegt nicht an Facebook und an Twitter, was in der arabischen Welt passiert, und umgekehrt ist auch nicht das ganze Mobbing im Internet darauf zurückzuführen. Es läuft auf die zentrale Frage hinaus: Was bringt der einzelne Benutzer mit, und wie geht er damit um? Und damit steht auch die Frage im Raum: Welche Voraussetzungen muss ein Mensch mitbringen, damit diese Dinge positiv genutzt werden können?
Das Internet ist das Medium des Bewusstseinsseelenzeitalters
Das Internet ist das Medium des Bewusstseinsseelenzeitalters. Das machen viele Facetten deutlich. Wir haben nicht mehr die Autoritäten dahinter, die dafür sorgen, dass qualitätsgeprüfte Inhalte ins Netz kommen. Man findet alles im Internet: alle Perlen und allen Dreck, zu dem die Menschheit in der Lage ist. Das ist mitunter sehr frustrierend, und man wartet auf den Gesetzgeber – aber da können wir lange warten. Es gibt weder juristische noch technische Möglichkeiten, das Internet in den Griff zu bekommen. Das Internet ist ein Spiegel des seelisch-geistigen Zustandes der Menschheit. Wir selbst sind es, die es besser machen können. Ein Auftrag der Waldorfpädagogik ist die Erziehung zur Freiheit, zum mündigen Bürger und wachen Zeitgenossen, der am Wohle der anderen orientiert in der Welt steht.
„social networking“ und Facebook
Ich möchte nun herausarbeiten, womit wir es beim „social networking“* zu tun haben. Facebook hat mittlerweile 600 Millionen Profile, und man wird fast als merkwürdig betrachtet, wenn man sich dort nicht registriert hat. Wenn man diesen virtuellen Raum von Facebook einmal auf die Wirklichkeit überträgt, wird einem die Absurdität klar. Stellen Sie sich vor, Sie laufen durch Ihre Stadt und es kommt jemand auf Sie zu und spricht Sie an: „Hallo! Auch Brillenträger? Ich bin jetzt 42 Jahre alt und komme aus Bad Honnef. Dort habe ich eine Wohnung mit unverbaubarem Blick. Ist ganz super! Ich bin Waldorflehrer gewesen und habe jetzt so eine Gesprächsgruppe. Da kannst du gerne mit dazu kommen. Beruflich bin ich Medienberater. Falls du dazu Fragen hast: Man kann mich buchen als Vortragsredner. Ich mag total gerne Fantasy-Romane und auch Science Fiction Filme, aber mehr die Klassiker. Im Urlaub bleibe ich immer in Deutschland, weil ich sonst immer genug rumfahre. Ich habe dir auch ein paar Fotos mitgebracht: Da kannst du mich mit meiner Tochter sehen auf Amrum, wir buddeln da gerade im Sand. Und so sehe ich in der Badehose aus. Geht doch noch, oder?! Und das hier ist mein Auto … Und wer bist du denn eigentlich?“
Wenn Ihnen so etwas in der Stadt passieren würde: Werden Sie dann dieser Person erzählen, wer sie sind, welche Hobbies Sie haben – oder holen Sie Hilfe? Wenn einer auf der Straße herumläuft, einem ungefragt zeigt, wie er in der Badehose aussieht – dann werden wir ihn doch nicht in unsere Freundesliste „adden“. Aber im Internet ist das schick!
Eine andere Seite, die mit dazu kommt: Keines der Social Networks existiert aus karitativen Gründen. Es geht nicht um die Verbesserung der Welt oder die Demokratisierung der Gesellschaft – es geht ums Geschäft. Und die machen auch keinen hehl draus, denn wenn man mal die AGB (Allgmeine Geschäftsbedingungen) lesen sollte: Da steht das alles klar geschrieben.
„Privatsphäre“ und „Internet“ sind unvereinbare Gegensätze
Das Schlimme ist, dass hier ein Menschheitsbetrug ohnegleichen stattfindet, indem mit dem Begriff „Privatsphäre“ immer wieder jongliert wird. Wir müssen uns alle klar machen, dass „Privatsphäre“ und „Internet“ unvereinbare Gegensätze sind. Facebook liest alles mit, was man schreibt und registriert jeden Mausklick, den man bei Facebook macht; es wird aufgeschrieben, wie viel Sekunden man sich ein bestimmtes Foto anschaut usw. Absurderweise wird bei Facebook und SchülerVZ von „Privatsphäreneinstellung“ geschrieben. Man kann ein Foto hochladen „nur für zwei Freunde“; aber wenn man die AGB gelesen hat, steht dort, dass man, wenn man ein Foto oder Video hochgeladen hat, Facebook erlaubt, dauerhaft und weltweit diese Datei „unter zu lizensieren“. Das bedeutet: Diese Datei gehört Facebook, und die können damit machen, was sie wollen. Beispielsweise hat Facebook als ein Subunternehmen einen Verlag, der Fotokalender produziert, und darin sind nur Bilder, die Menschen in Facebook hochgeladen haben. Ein weiteres Subunternehmen ist die mittlerweile wohl weltgrößte Bildagentur. Wenn ich ein Buch schreibe und ein Bild mit drei Kindern vor dem Computer brauche, schicken die mir 100 Bilder zur Auswahl. Das heißt, dass alle, die ihre Bilder bei Facebook hochladen, damit rechnen müssen, dass ihr Bild auf einer Plakatwand, einem Buchtitel, einer Zeitschrift erscheint.
Die Betreiber wissen alles
Die Betreiber wissen alles, was man macht. Bei den Smartphones (ein Mobiltelefon mit Computerfunktionalität und -konnektivität) werden die durch GPS (Global Positioning System, ein globales Navigationssatellitensystem zur Positionsbestimmung und Zeitmessung, Anm. d. Red.) ermittelten Positionsdaten gespeichert. Bei dem iPhone 4 steht in der AGB: „Ihre Positionsdaten werden von Macintosh und seinen Partnerunternehmen gespeichert.“ Falls Sie Alzheimer bekommen, rufen Sie bei Macintosh an: Die wissen, wo Sie in den letzten 20 Jahren gewesen sind!!
Auch bei Google ist das so: Die Google-Tool-Bar packt automatisch, wenn man den Browser startet, ein Trace&Tracking auf den Rechner, und jeder Mausklick, jede Tastatur-Eingabe wird an Google geschickt, in Millisekunden. Diese Informationen werden für Werbezwecke weiterverkauft und sogar versteigert. Mit jedem weiteren Klick wird eine Adresse wertvoller, bzw. teurer, weil das Käuferprofil deutlicher wird. Bei vielen Internet-Seite, die wir aufrufen, sehen wir rechts und links Werbebanner. Bei einigen Internetseiten, trotz wahnsinnig schneller Internet-Leitungen, kommt erst der Inhalt, und es dauert den Bruchteil einer Sekunde, bis die Werbebanner auftauchen; und in dieser Sekunde wurde Ihre IP-Adresse (Internet Protokoll Adresse) meistbietend versteigert an die infrage kommenden Werbefirmen. Wenn Sie im Laufe einer Internet-Session dann tatsächlich auf ein Werbebanner klicken, erhält Google eine Prämie. Denn dann ist die Analyse aufgegangen: Sie haben die Werbung bekommen, die zu Ihnen passt. Und darum geht es.
Nun kann man wieder sagen: Wie gemein und böse sind die! Aber wir selbst sind es, die das so wollen. Wir wollen nämlich alle ein kostenloses Internet und nicht für jede Suchanfrage bei der Suchmaschine 50 Cents bezahlen! Es gibt nichts umsonst: Google kostet Geld und ein E-Mail-Account kostet auch Geld. Und wenn wir nicht mit Geld bezahlen, müssen wir eben anders bezahlen: Deine Daten gegen meine Daten – ein faires Handelssystem. Erst wenn wir sagen: „Guter Service ist mir Geld wert“, dann könnten wir auf eine Suchmaschine hoffen, die uns nicht ausspäht und nicht registriert.
Jede E-Mail wird weltweit mindestens zweimal gelesen
Jede E-Mail wird weltweit mindestens zweimal gelesen. Und wenn Sie wollen, dass nur der Empfänger Ihr Schreiben liest, müssen Sie es per Post in einem Brief mit 55 Cents verschicken. Da gilt das Briefgeheimnis.
Das Problem mit solchen Plattformen wie Facebook und Schüler VZ besteht darin, dass nicht nur Kinder das benutzen; die Experten gehen davon aus, dass 9% der Teilnehmer bei SchülerVZ Pädophile und andere Straftäter sind. Aber auch schon das, was der Betreiber macht, geht weit über das Ziel hinaus. Normalerweise ist das SchülerVZ erst für Kinder ab 12 Jahren, es gibt aber auch 10-jährige, die sich ein wenig älter machen, was im Internet kein Problem ist. Beim Registrieren müssen Felder ausgefüllt werden, diese sind mit Sternchen gekennzeichnet, alle anderen Angaben sind auf freiwilliger Basis. Wissen die Kinder das, vor allem die 10-jährigen? Neben Namen, Alter, Lieblingsfach, Hassfach, Eigencharakterisierung wird auch der Beziehungsstatus abgefragt, ob man einen Nebenjob hat und was man da macht. In der nächsten Spalte wird die politische Richtung erfragt: Man kann wählen zwischen kommunistisch, links, grün, liberal und unpolitisch. Das will der Betreiber aus wirtschaftlichen Gründen alles wissen, denn damit kann er viel Geld machen.
Dein Lieblingsfach? Hassfach? Hast du einen Beziehungsstatus?
Um sich das klar zu machen, stellen Sie sich, falls Sie selbst Eltern sind, vor: Sie gehen mit Ihrer 12-jährigen Tochter durch die Stadt, und dann kommt jemand mit einem Klemmbrett, ignoriert Sie völlig und wendet sich Ihrem Kind zu mit den Fragen: Wie heißt du denn? Wann hast du Geburtstag? Auf welche Schule gehst du? Dein Lieblingsfach? Hassfach? Hast du einen Beziehungsstatus? Und falls ja, hast du eine Romanze, bist du verliebt, vergeben oder frisch getrennt?
Bis zu welcher Frage wäre er in der Realität gekommen, wenn Vater oder Mutter daneben stünden? Wahrscheinlich nicht mal bis zur zweiten. Aber im Internet passiert das! Da gilt es, gesellschaftlich wach zu werden und den Betreibern den Riegel vorzuschieben und auch lauter zu protestieren.
der altersgemäßer Blödsinn kommt ins Internet und bleibt dort
Ein weiteres Problem besteht darin: Das, was ins Internet kommt, bekommt man in den seltensten Fällen wieder raus. Immer mehr Unternehmen sprießen aus dem Boden und versprechen gegen teure Bezahlung, die peinlichen Spuren im Internet zu beseitigen. Aber das ist Geldmacherei, denn wenn es hart auf hart kommt, nützen diese Firmen gar nichts. Das müssen vor allem junge Menschen immer mehr leidvoll erleben: Sie werden mit dem konfrontiert, was im Internet gelandet ist. Wir Erwachsenen haben in unserer Biografie auch Blödsinn gemacht, reichlich. Aber dieser Blödsinn, den wir verzapft haben, ist im Dunstkreis unserer Biografie verborgen, und keiner von unseren Kolleginnen und Kollegen, von unseren Vorgesetzten, noch nicht mal unsere Lebenspartner haben eine Ahnung davon, denn die kennen nur unsere Version. Das Problem der nachfolgenden Generation ist, dass ihr altersgemäßer Blödsinn ins Internet kommt, beispielsweise stellen sie schnell mal mit der Handykamera geknipste Fotos von desolaten Situationen auf Parties, von Besäufnissen etc. ins Netz. Das heißt, dass man es in 15 Jahren noch finden wird. Bei Google gibt es den Error 404: die Seite, bzw. das Foto ist im Internet längst gelöscht; aber Google durchsucht nicht das Internet, sondern kopiert es permanent, und man bekommt mit entsprechenden Befehlen dann die Webseiten dieser Kopien angezeigt, die im Internet schon gar nicht mehr existieren.
Eigencharakterisierung „faule Sau“
Immer mehr Unternehmen in Deutschland haben die Unsitte, dass sie Bewerberinnen und Bewerber für ihre Ausbildungsplätze vorher googeln, und wenn dann beispielsweise ein Foto von einem Komasaufen erscheint, lassen sich die Konsequenzen denken. Je nachdem reicht es aber auch, wenn sie als Haßfach Mathematik genannt haben und als Eigencharakterisierung „faule Sau“ wählen. Auch im Privaten greift es immer mehr um sich. Junge Leute, die sich kennenlernen und sympathisch finden, schauen erst mal im Internet nach, wer der andere „wirklich“ ist. Davon hängt ab, ob sie diesen Beziehungsfaden in der Wirklichkeit noch mal aufgreifen.
Man wird festgelegt auf einen Ist-Zustand. Um das Leitmotiv der Tagung an dieser Stelle aufzugreifen: Das ist der ahrimanische Zug im Internet. Wenn man Amazon Kunde ist und die Startseite aufruft, wird man gleich mit Namen begrüßt, und es werden sofort die Produkte angezeigt, die Sie interessieren könnten. Darunter steht: „Andere Kunden, die dieses Produkt gekauft haben, haben sich auch für folgende Artikel interessiert“… dann erscheinen diese Produkte auf dem Bildschirm. Für uns Erwachsene ist das ab einem bestimmten Punkt vielleicht auch egal, weil wir ja ein wenig einrosten. Aber das Wesen der Jugend ist Wandel! Das Internet dagegen grenzt sie auf den Ist-Zustand ein. Wirtschaftlich ist der beste Konsument derjenige, der immer dasselbe kauft.
Wodurch kommt Entwicklung zustande? Dadurch, dass wir zufällig auf ein ganz neues Thema stoßen, das uns einen neuen Horizont öffnet. Und wenn die Entwicklung im Internet so weiter geht wie zurzeit, dann ist dieser Aspekt gefährdet. Wenn man dann noch an die Kinder denkt, die auf eine Staatsschule gehen müssen, wo statt dem Lehrer-zentrierten Unterricht ein Medien-zentrierter Unterricht stattfindet, ist diese Eingrenzung auf den Ist-Zustand eine weit greifende Perspektive.
die Trennung von den realen Bezügen
Ein weiteres Problem bei Social Network ist die Trennung von den realen Bezügen. Viele Erwachsene nehmen an Facebook teil, weil sie wieder ihre alten Schulfreunde finden wollen. Aber die Jugendlichen nehmen daran teil, um neue Freunde kennenzulernen. Bei den Mädchen geht das am besten damit, dass sie ein hübsches Foto von sich reinsetzen – so finden sie ganz schnell neue Freunde. Dann beginnt ein Wettlauf: Wer hat mehr Freunde? Der Durchschnitt bei SchülerVZ liegt mittlerweile bei 150 virtuellen Freunden, die man natürlich nicht persönlich kennt. Und diese virtuellen Freunde sind immer sehr nett zu einem…. Das ist die luziferische Geste des Internets: Bei den extremen Formen der Onlinesucht hat man es mit Menschen zu tun, die immer mehr die Fähigkeit zu realen menschlichen Kontakten verlieren, aber auf der anderen Seite hunderte virtuelle Freunde haben. Sie hausen in einer Sphäre, wo sie sich von den realen menschlichen Bezügen verabschiedet haben. Sie verlieren die Fähigkeit, Kritik jeglicher Art, und sei sie noch so konstruktiv, zu ertragen. Das ist es auch, was im Social-Networking und Chatten untergraben wird: Wenn mich jemand kritisiert, kann ich diese Person aus meiner Freundesliste streichen und kann mir so einen Freundeskreis schaffen, der mich in all meinem Handeln und Denken gut findet.
Das Internet an sich ist weder luziferisch noch ahrimanisch, diese Behauptung wäre falsch. Aber wir können an genannten Beispielen sehen, wie beide Kräfte zur Wirksamkeit kommen können. Und es gilt: Je unbewusster ein Mensch ist, umso stärker kann sich eine derartige Wirksamkeit entfalten. Insofern ist es ein Problem, wenn sich immer jüngere Kinder diesen Sphären aussetzen. Auch wenn wir sie aufklären, sind sie überfordert.
… ab heute werde ich keine Internet-Spiele mehr spielen und chatten und dissen
Welche Voraussetzungen braucht es, um mit Social-Networking und anderen solchen Plattformen umgehen zu können? Man braucht die Kompetenz, das Internet als Lesemedium zu benutzen. Dazu muss man auch lesen wollen. Wenn Kinder heute Bild-orientiert an das Internet herangeführt werden, brauchen sie nicht lesen zu lernen. Dazu noch einmal das bereits beschriebene Phänomen des Nicht-Denkens seitens der Eltern und Bildungspolitiker: Wenn Kinder bereits in jungem Alter mit der Maus rumklicken, um entsprechende Spiele am Computer zu betätigen, woher sollen sie dann im Alter von 13 oder 14 auf einmal die Fähigkeit hernehmen: „Heute schaue ich mir nicht mehr Videos oder Bilder auf Youtube an, ich werde keine Internet-Spiele mehr spielen und chatten und dissen*. Ab heute benutze ich nur noch Wikipedia und wissenschaftliche Datenbanken, um meinen Horizont zu erweitern, und ich werde mich in demokratischen Foren engagieren, um einen produktiven Beitrag für die politische Entwicklung zu bringen.“ Wo dieses Wunder herkommen soll – keine Ahnung! Ich habe auch noch keinen Bildungspolitiker getroffen, der das erklären konnte.
Eine weitere Kompetenz für einen Umgang mit dem Internet: Es braucht ein echtes, aufrichtiges Interesse an einem bestimmten Thema – außer am daddeln (spielen an einem Computer) und chillen (sich entspannen, rumhängen, abhängen). Dafür ist das Internet grandios: Wenn Sie sich für Origami-Figuren des 17. Jahrhunderts interessieren, werden Sie im Netz auf irgendeinen anderen Menschen auf diesem Planeten treffen, der dieses Hobby teilt. Dann können Sie endlos fachsimpeln und sich austauschen. Das gilt auch für Demokratisierungsbewegungen, wie z. B. Stuttgart 21, Anti-Castor-Bewegung. Auf diesen Internetforen kommen Menschen zusammen, die ein ernsthaftes Interesse verfolgen.
„Sie können auf Hardcore-Porno-Seiten landen“
Der letzte Punkt bezüglich Kompetenz bezieht sich darauf, dass man im Internet mit Dreck konfrontiert wird, ob man will oder nicht. Ein Tippfehler oder eine zufällig „falsche“ Anfrage bei Google, und Sie können auf Hardcore-Porno-Seiten landen. Es gibt eine Website „kino.to“, auf der man alle Filme, bevor sie im Kino erscheinen, anschauen kann. Diese Website kennen die Kinder. Kino.to finanziert sich u. a. damit, dass immer wieder Hardcore-Porno aufpoppt. Und wenn Eltern ihren Kindern gestatten „Wiki und die starken Männer“ auf Kino.to anzuschauen, wird dieses Kind mit Hardcore-Pornographie konfrontiert. Auch die Kinder-Schutz-Filter nützen in diesem Fall nur bedingt, sie verhindern auch nicht alles.
Das heißt, neben Lesekompetenz und Lesewilligkeit, neben echtem Interesse, bedarf es einer seelisch-moralischen Reife, um mit dem Internet zurechtzukommen.
Deshalb ist ein Computer mit Internetzugang im Jugendzimmer eine Überforderung für den Betreffenden. Denn kein 15-jähriger hat durchgehend ein aufrechtes Interesse an einem Thema; die seelisch-moralische Reife erwacht, aber sie ist noch nicht vorhanden. Wir wissen: Bei Erwachsenen beginnt der private Missbrauch des Internets am Arbeitsplatz ab dem mittleren Management aufwärts. Warum? Alles darunter sitzt im Großraumbüro, und dort werden während der Arbeitszeit keine Pornos angeschaut, keine Schuhe bei eBay ersteigert usw., weil die anderen Kollegen das sehen würden. Aber ab dem Moment, wo die Damen und Herren ihr eigenes Büro haben, geht der Missbrauch des Internets während der Arbeitszeit rapide in die Höhe.
Wir müssen die jungen Menschen so lange vor sich selber schützen, bis sie die Verantwortung selbst übernehmen können.
Was ist denn eigentlich die Privatsphäre?
Ich möchte das Thema noch mal auf eine andere Ebene heben. Die Betreiber von Facebook, Google etc. sammeln unsere Daten und analysieren sie, so dass man sagen muss: Sie kennen uns und unsere Kinder besser als wir selbst. Es ist ein fairer Handel, und weil wir die AGB´s nicht lesen, empfinden wir es als unfair. Wenn wir die Privatsphäre in Gefahr sehen, müssen wir uns fragen: Was ist denn eigentlich die Privatsphäre? Sie ist uns allen heilig. Aber das ist noch nicht lange so. Seit den 80-er Jahren nimmt jedes Kind für sich das Recht auf ein eigenes Kinderzimmer in Anspruch; davor hatten mehrere Kinder ein Zimmer zusammen. Für Hausbesitzer kommt das Grundstück dazu, mit Sichtschutz, damit man nicht gesehen wird. In früheren Kulturen findet man diese Privatsphäre bei den Herrschern, aber die Masse der Menschheit kannte das nicht. Wenn man sich in den Museumsdörfern die alten Bauernhäuser anschaut – da gab es eine Stube. Die „Familienvergrößerung“ war ein kollektives Ereignis. Auch noch in den Plattenbauten wusste man bestens voneinander Bescheid. Seit der Aufklärung taucht ein weiterer Aspekt auf: Die Gedanken sind frei; auch eine Form von Privatsphäre. Davor gab es die Auffassung: Gott sieht alles.
Sie machen das nicht zur Verbesserung der Menschheit
Von der Anthroposophie wissen wir: Was immer wir tun, fühlen oder denken ist eine Realität, und wenn nicht im Physischen, dann im Seelischen und Geistigen. Es gibt keine Privatsphäre! Und die Ebene, auf der sich das alles wiederfindet, ist die Akasha-Chronik (Vorstellung eines übersinnlichen „Buchs des Lebens“, das in immaterieller Form ein allumfassendes Weltgedächtnis enthält. Anm. d. Red.) Das bürgerliche Konstrukt von der Trennung zwischen öffentlichem und privatem Menschen ist keine weltüberspannende Realität. Dort sind unsere Erlebnisse aufgezeichnet und nicht nur, was wir getan haben, sondern auch, was wir gefühlt haben, unsere Gelüste, sexuellen Vorlieben, jeder schäbige Gedanke über einen Kollegen etc. Damit werden wir im Nachtodlichen konfrontiert und daraus entsteht Karma. Gerade wir Anthroposophen müssten wissen, dass es keine Privatsphäre gibt. Warum also aufregen über Google und Konsorten?! Es gibt dafür einen sachlichen Grund: Sie machen das nicht zur Verbesserung der Menschheit. Würde Facebook und Google mit geistig-seelisch aufrichtiger Menschlichkeit ihren Job betreiben, dann würden sie entsprechenden Leuten nicht die Werbebanner von Erotik-Shops auf die Seite packen, sondern Adressen von guten Therapeuten. Sie würden versuchen, diesem Menschen so zu helfen, dass er sich selber helfen kann, anstatt das zu kommerzialisieren. Das ist das Böse: Es geht um Egoismus und Gruppenegoismus.
Wir müssen lernen, uns von der doppelzüngigen Privatsphäre zu verabschieden
Wenn wir in den Schulen Kinderbesprechungen praktizieren, machen wir doch das Gleiche: Wir dringen ein in die Privatsphäre der Kinder; wir schauen, wie sie sich bewegen, auf ihre Äthersignatur, auf ihr Temperament, wir schauen ihnen in die Seele, auf der Suche nach dem geistigen Wesenskern dahinter. Aber das, wodurch es moralisch gerechtfertigt ist: Es geht uns nicht darum, das zu vermarkten, sondern wir wollen ihnen helfen, sich zu entwickeln und zu entfalten.
Von daher sollten wir nicht jammern, wenn unsere Privatsphäre verloren geht, sondern darin eine Signatur des Zukünftigen sehen. Wir müssen als Menschheit lernen, uns von der doppelzüngigen Privatsphäre, in der wir alle noch leben, zu verabschieden. Es wäre doch schön, wenn wir in einem Waldorf-Kollegium einmal uns unsere innersten Gedanken und unanthroposophischen Gelüste mitteilen – ganz sachlich. Wenn uns das gelingt, haben wir weniger Probleme damit, dass Google das auch weiß.
Wir haben es im Internet mit weltöffentlichen Auftritten zu tun. Natürlich dürfen Eltern nicht in das Kinderzimmer gehen und das Tagebuch lesen, aber wenn die Kinder ein Online-Tagebuch führen und die Eltern und die Lehrer die einzigen sind, die das nicht lesen, dann läuft etwas schief.
Wenn Sie sich als Lehrer oder Eltern auf den Weg machen um zu schauen, was Ihre Kinder in den Social Networks treiben, dann sorgen Sie vorher dafür, dass Sie das mit der richtigen moralischen Haltung tun. Es darf nicht so sein, dass wir den Jugendlichen hinterher spionieren, sondern wir müssen das mit der gleichen moralischen Ernsthaftigkeit und dem Respekt betreiben, wie wir Kinderbesprechungen machen. Wir müssen die Ergebnisse aus Social Network aber auch in eine Kinderbesprechung miteinbeziehen: Es gehört zu diesem realen Schüler, wie wir ihn kennen, auch noch ein virtueller. Und auf den sollten wir auch unsere Aufmerksamkeit richten, aber mit dem gleichen wertschätzenden Interesse, wie wir es bei den anderen Phänomenen auch haben.
In diesem Sinne ist diese Auseinandersetzung mit diesem Thema auch auf anthroposophischer Grundlage so dringend notwendig – gemäß dem Motto, wie es in der „Philosophie der Freiheit“ heißt: „Leben in der Liebe zum Handeln und leben lassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime des freien Menschen.“
(redaktionelle Bearbeitung: Christine Pflug)
dissen = Das umgangssprachliche Verb dissen (von engl. disrespect, discriminate oder discredit abgeleitetes Verb to diss; Abkürzung für diskreditieren oder diskriminieren), hauptsächlich von Jugendlichen verwendet, bedeutet jemanden schlechtmachen, jemanden schräg anmachen, respektlos behandeln oder jemanden schmähen.
You-Tube = ein Internet-Videoportal, auf dem die Benutzer kostenlos Video-Clips ansehen und hochladen können. Das Unternehmen wurde am 9. Oktober 2006 von Google übernommen.
schülerVZ (kurz für Schülerverzeichnis) ist eine Online-Community für Schüler und neben studiVZ und meinVZ ein Projekt der VZnet Netzwerke.
social networking (Eine Online-Community (Netzgemeinschaft) ist eine Sonderform der Gemeinschaft, die einander via Internet begegnen und sich dort austauschen. Findet die Kommunikation in einem Sozialen Netzwerk statt, das als Plattform zum gegenseitigen Austausch von Meinungen, Eindrücken und Erfahrungen dient, spricht man auch von Sozialen Medien. Ermöglicht wird dies durch dafür eingerichtete Plattformen. E-Mail, Chat, Instant-Messenger und Foren sind die bekanntesten Tools, die Kommunikation zwischen den Mitgliedern ermöglichen. Eine Online-Community muss aufgebaut, gepflegt und betreut werden. Aus: Wikipedia)
Als Spam oder Junk (englisch für ‚Abfall‘ oder ‚Plunder‘) werden unerwünschte, in der Regel auf elektronischem Weg übertragene Nachrichten bezeichnet.