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Jüngerwerden im Ältersein
Artikel von Gerhard Ertlmaier
Die Menschen in Deutschland werden älter. Wie damit umgehen in einer Gesellschaft, in der Jugendlichkeit einen hohen Stellenwert hat? Jede Altersstufe hat ihr besonderen Qualitäten und Potentiale. Welche sind das für dieses „neue Alter“? Wir müssen oder sollten nach Vorbildern suchen, nach Ideen und Möglichkeiten, um dem Alter (s)einen besonderen Sinn zu geben und ihn zu leben.
Gerhard Ertlmaier, seit 33 Jahren Priester der Christengemeinschaft, davon 6 Jahre in Lübeck, 9,5 Jahre in Heilbronn, zuletzt in HH-Bergedorf – Lüneburg – Wendland. Ab 2009 über 9 Jahre Lenker für die Region Norddeutschland (heute Nord – und Nordwestdeutscheland) und anschließend noch 3 Jahre für Russland. Seit 2021 emeritiert in Bergedorf – Lüneburg – Wendland. Verheiratet und drei erwachsenen Kinder.
„Ihr sammelt alte Möbel, alte Autos, alte Bilder,
nur eines sammelt ihr nicht: alte Menschen.
Versteht ihr denn nicht, die Alten, sie sind die Überlebenden, die wissen etwas, die Alten, sie sind nicht einfach nur zu lange geblieben,
die Alten sind ein Wunder, wie die Neugeborenen,
so nahe am Ende, das ist so kostbar wie der Anfang.“
So spricht ein alter Mann in dem Stück „Ich bin nicht Rappaport“, geschrieben 1986 von Herb Gardner.
Sind es die Jungen, die meinen, die Alten nicht zu verstehen, oder sind die Alten nicht mehr das Wunder wie die Neugeborenen?
Dieses spannende Verhältnis von Jung und Alt scheint nicht ganz neu. Schon etwa 400 vor Christus schreibt Sokrates:
„Unsere Jugend liebt den Luxus, hat schlechte Manieren, macht sich über die Autorität lustig, hat überhaupt keinen Respekt vor dem Alter. Unsere Kinder sind Tyrannen, sie erheben sich nicht vor Erwachsenen, sie widersprechen ihren Eltern, sie sind unmöglich.“
Es wäre zu einfach, dieses Miteinander von Jung und Alt als generell schwierig zu bezeichnen, ist es doch eher ein gegenseitiges sich Verantwortlichmachen für Vergangenheit und Zukunft, was den Dialog in der Gegenwart oft so schwierig macht. Trägt nicht jeder Mensch Kindheit und Jugend in sich, auch wenn er älter wird? Oft entsteht der Eindruck, als hinge das alles nicht mehr so richtig zusammen.
Es ist über 30 Jahre her, als ich im Foyer eines Seniorenheims zusehen konnte, wie am Morgen die älteren Damen versuchten, den besten Platz auf den Bänken zu ergattern, um die kleinen Kinder zu beobachten, wie sie durch das Foyer des Heims zu ihrem Kindergarten marschierten, und es war begeisternd zu sehen, wie die Augen der Bewohner beim Anblick der kleinen Kinder dabei aufblitzen. Was passiert da eigentlich? Ist es ein sich erinnern an die eigene Kindheit oder sogar darüber hinaus?
Wie heißt es in dem Schauspiel:
„….so nahe am Ende, das ist so kostbar wie am Anfang“,
Es gibt viele Geschichten von kleinen Kindern, die erzählen, wie sie auf ihrem Wege zur Erde Opa oder Oma begegnet sind. Das Menschwerden, ein Begegnen im Kommen und Gehen.
Kann der Mensch zu Lebzeiten über Anfang und Ende hinauswachsen?
Wie steht es in unserem materialistisch geprägten Zeitalter mit dem Bewusstsein von Anfang und Ende? Kann der Mensch zu Lebzeiten über Anfang und Ende hinauswachsen? Wo kommt der Neugeborene her und wohin geht er, wenn er alt wird und über die Schwelle geht? Alles Fragen, die sich im Laufe eines Lebens dem Menschen stellen können und deren Antworten in ihm selbst verborgen schlummern.
Im Prolog des Johannesevangeliums heißt es:
„…die es (das Licht) aber aufnahmen, die konnten sich durch es als Gottes Kinder offenbaren.“
Könnte das nicht das Licht sein, das die Alten in den Augen der Kinder und damit in sich selbst für einen Augenblick erleben?
Nun hat die Menschheit durch die Naturwissenschaft eine gewaltige Menge an Wissen angehäuft, und dennoch tut sich der Mensch schwer im Erkennen, was er wirklich ist, ohne ein Davor und ein Danach mit einzubeziehen. Sprechen wir doch bei der Taufe eines Kindes oder Jugendlichen, von der herabgesandten Seele aus der Geist- in die Erdengemeinschaft, eine Sendung, die für das ganze Leben gedacht ist, und doch nicht so sofort verstanden oder gar erlebt werden kann. Es braucht seine Zeit.
„In demselben Maße, wie der Materialismus sich auf den Gebieten des Lebens – Erkenntnis, Kunst, Religion weiter ausbilden wird, in demselben Maße wird sich zur gleichen Zeit Jugend mit Alter nicht verstehen können.“ (1)
Um das zu überwinden, braucht es das Wunder im Menschen, in dem die „Alten“ zu erahnen versuchen, dass das Wissen des Kopfes in ein Wissen des Herzens verwandelt werden kann.
das Kopfwissen allmählich in Herzwissen umwandeln
„Und das ist in der Tat ein tiefes, bedeutsames Lebensgesetz. Man kann das Kopfwissen rasch erwerben, man kann ungeheuer viel wissen, gerade in unserer Zeit, denn die Naturwissenschaft – , nicht die Naturwissenschaftler,(…) ist in unserer Zeit recht sehr fortgeschritten und hat reichen Inhalt. Aber dieser Inhalt ist so, dass er nicht umgewandelt ist in Herzenswissen, dass das Kopfwissen überall geblieben ist, weil die Menschen (…) das andere, was da anrückt im Leben nach dem 27igsten Jahre, nicht mehr beachten, weil die Menschen nicht verstehen, alt zu werden, beziehungsweise könnte ich auch sagen: Jung zu bleiben, indem sie alt werden (…) Und das ist gerade die Aufgabe der Zukunft, dass das Kopfwissen allmählich in Herzwissen umgewandelt wird. Da wird ein wirkliches Wunder geschehen, wenn das Kopfwissen in Herzwissen umgewandelt wird.“ (2)
Wer denkt schon mit 27 Jahren daran, alt zu werden? Und schon kommt die nächste Frage, was dafür notwendig scheint, dem nachzuspüren, um diese Einseitigkeit zu überwinden. Empfinden zu lernen, dass es noch eine andere grundlegende Welt mit dem Herzen zu erkunden gibt. Wir Menschen denken vorwiegend mit dem Kopf und das möglichst schnell, viel schneller als mit dem Herzen, das der Mensch kaum oder viel weniger zu Wort kommen lässt.
„Es ist gewiss wertvoll, wenn der Mensch auch ein Herz hat und nicht bloß Gedanken. Aber das Wertvollste ist, wenn die Gedanken ein Herz haben. Das haben wir jedoch ganz verloren.“ (3)
Denken mit dem Herzen braucht den ganzen Menschen.
Wie können wir das Verlorene wiedergewinnen? Denn wir spüren durchaus immer wieder, was es heißt, wenn der Kopf „ja“, das Herz aber „nein“ sagt und sich das Gewissen bemerkbar macht, und wir oft genug erleben, wie schnell der Kopf denkt und urteilt, und für das Herz keine Zeit bleibt, damit die Gedanken ein Herz bekommen, was viel mehr Zeit benötigen würde. Denken mit dem Herzen braucht den ganzen Menschen.
„Denn deshalb wollen die Menschen der Gegenwart das Kopfwissen nicht in Herzwissen überführen, weil das Herzwissen nicht nur länger braucht, sondern weil es auch gegen das Kopfwissen reagiert, es zurückstößt, wenn es unwahr ist. Der übrige Mensch macht sich dann als eine Art Gewissen bemerkbar. Davor fürchtet sich die nur für den Kopf geneigte Menschheit der Gegenwart. (…) Sie muss sich jenen Gewissensqualen aussetzen, die sehr leicht entstehen können, wenn das Herz zum Kopf „nein“ sagt. Denn immer sagt das Herz zum Kopf „nein“, wenn nicht Geistiges gesucht wird, oder wenn Wissen nur angestrebt wird aus dem bloßen Egoismus, aus Begierde, Ehrgeiz und so weiter.“ (4)
Gewissen und Mitleid sind es, was unser Bewusstsein über den Kopf und damit über uns selbst hinausführt, das Leben der Seele weitet, uns „jünger“ macht.
Im 2.Brief des Paulus an die Philipper heißt es dazu:
„Seitdem in der Berührung mit dem Christus unser Geist erwacht, seit die wahre Liebe uns ermutigt, seit Gemeinschaft im Geiste uns vereint, und das Mitfühlen und das Mitleiden in uns lebendig wird, erfüllt sich unsere freudige Zuversicht. So richtet euren Sinn auf das eine gemeinsame Ziel – von einer Liebe geeint im Zusammenklang der Seelen, frei von persönlicher Eitelkeit und Ehrgeiz. In Bescheidenheit achte jeder den Anderen so hoch wie sich selbst, schaue jeder in gleicher Wachheit auf des Anderen Sorge als auf die eigene Sorge. Durchdringt euch mit der gleichen Gesinnung, die in dem Christus Jesus lebt…..“
Dieser Christus Jesus spricht im Evangelium so unzählige Male von der Kraft unseres Herzens, an zwei Stellen im Lukasevangelium heißt es:
LU12,33/34
„Verschafft euch Geldbeutel, die nicht veralten, einen unerschöpflichen Schatz in den Himmeln, an den kein Dieb herankommt und den keine Motte zerstört. Wird doch da, wo euer Schatz ist, auch euer Herz sein…“
Lu21,14 (Ölbergapokalypse)
„Prägt euch aber ins Herz ein, dass ihr euch keine Sorgen wegen eurer Verteidigung machen sollt. Von mir werdet ihr empfangen sowohl die Sprache, als auch die Weisheit, die keiner von allen euren Widersachern widerstehen oder auch nur widersprechen kann.“
Man mag über die Errungenschaften der Naturwissenschaft glücklich oder unglücklich sein, indem wir ihre scheinbaren Vorteile genießen und doch nicht so recht wissen, was da alles auf uns zukommt, und was das alles mit uns macht – was mit uns geschieht was wir kaum durchschauen.
Es wird vom Menschen abhängen, ob er sich das Wunder zutraut, das bloße Kopfwissen in Herzenswissen zu wandeln.
„…diese Naturwissenschaft, bloßes Kopfwissen geblieben, und daher Materialismus ist, die wird, wenn sie Herzenswissenschaft werden wird, wenn sie aufgenommen wird vom ganzen Menschen, wenn die Menschheit verstehen wird, älter zu werden, oder jünger zu werden im Ältersein (…) dann wird diese, gerade diese Wissenschaft der Gegenwart, der reinste Spiritualismus werden, die reinste Bekräftigung für den Geist und sein Dasein werden. Es gibt keine bessere Grundlage als die Naturwissenschaft der Gegenwart, wenn sie sich umwandelt in dasjenige, was dem Kopf des Menschen zufließen kann aus dem übrigen Organismus, aber jetzt aus dem geistigen Teil des übrigen Organismus. Das Wunder wird sich vollziehen, indem die Menschen lernen werden, die Verjüngung ihres Ätherleibes (Lebensleibes) auch zu fühlen, so dass die materialistische Naturwissenschaft der Gegenwart Spiritualismus werden wird. Sie wird umso eher Spiritualismus werden, je mehr Leute sich finden werden, ihr ihren gegenwärtigen Materialismus, ihre Materialistische Torheit vorzuhalten.“ (5)
Was heißt nun „Jüngerwerden im Ältersein“ für den Menschen, wobei das „Älterwerden“ ja schon recht früh beginnt. Zunächst hat man ja oft eine ganz andere Vorstellung, was damit gemeint sein könnte. Einfach jung bleiben trotz älter werden. Oder auch ein sich jugendlich geben, um damit leichter Anschluss zu finden. Wie uns die Anthroposophie nahebringt, geht es um etwas ganz anderes, etwas, dass wir uns als Älterwerdende in aller Freiheit neu erringen können, für die Kinder und die Jugend.
Schon im Matthäusevangelium steht im 18. Kapitel der rätselhafte Satz:
„Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.„
Es geht um ein Zusammenhalten der Generation Mensch über den Tod hinaus.
Es geht um ein Zusammenhalten der Generation Mensch über den Tod hinaus. Durch die Wiederbelebung des Herzdenkens soll die Form der geistigen Existenz erhalten bleiben über die Erdenzeit hinaus. Denn der menschliche Lebenslauf entspricht einer geistigen Schöpfung. Jeder trägt eine eigene, individuelle, geistige Dimension in sich – das Ewige – sie ist Frucht des Lebens, die über den Tod hinaus andauern soll.
„Denken sie, wenn das nicht bloß Theorie ist, wenn das Lebensweisheit ist, soziale Lebensweisheit, dann wird das Kind so erzogen, dass es weiß: Ich kann etwas lernen; aber derjenige, der mich erzieht, der hat etwas in sich, was ich nicht lernen kann, wozu ich erst so alt werden muss wie er, damit ich es in mir selber finden kann. Wenn er es mir erzählt, dann gibt er mir etwas, was ein heiliges Geheimnis für mich sein soll, weil ich es aus seinem Mund hören, in mir aber nicht finden kann.“(…)
„Unsere Wissenschaft dient nicht der Jugend, denn man kann sich im späteren Alter nur an sie erinnern, sie kann nicht Herzensweisheit werden (…)“
„Warum ist das so? Weil eben eine Zeitlang die Menschheit das schon durchmachen musste, rein materiell in die Welt zu blicken. Es ist auch die Zeit herangekommen, wo die Umwandlung gerade des zur Spiritualität tauglichen Naturwissens der Gegenwart in Herzwissen sich vollziehen muss.“ (6)
Schauen wir konkret auf das ganz alltägliche Leben, was uns auf den Weg bringt, unseren Gedanken ein Herz zu geben: Wie abhängig sind wir von unserem Leibe, was alteingesessene Gewohnheiten betrifft? „Das war schon immer so“. Gewohnheiten sind natürlich nicht immer schlecht, solange sie nicht zwanghaft werden. Treffen wir nur noch Entscheidungen, von denen wir glauben, dass sie absolut berechenbar sind? Haben wir noch den Mut Entscheidungen in die Ungewissheit der Zukunft zu treffen? Friedrich Christoph Öttinger spricht es in einem Gebet aus:
„Gott gebe mir Mut, das zu ändern, was ich ändern kann, die Gelassenheit, das hinzunehmen, was ich nicht ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Eine ganz andere Hilfe kann, in der regelmäßigen Übung, die abendliche meditative Rückschau auf den vergangenen Tag sein, so objektiv wie nur möglich, ohne sich dabei selbst zu beurteilen. Ein Vorgang, den wir im Nachtodlichen erleben werden und hier freiwillig ergreifen können, auch im spürbaren Erleben dessen, was mein Gegenüber an mir erlebt hat. Dazu kommt die Liebe zu den Verstorbenen, die nur die Gedanken des Herzens verstehen. Es geht um ein Zusammenleben über den Tod hinaus, im „herzlichen Wiederbeleben“ des Denkens, das uns den menschlichen Lebenslauf zur Brücke werden lässt aus dieser zu jener Welt.
Immer sollten es verschiedene Standpunkte sein, aus denen die Welt zu betrachten ist.
Über die Jahre hin erzeugt es immer mehr Gelassenheit und Ruhe in uns, im Wissen um das Dasein, und strahlt aus auf unsere Mitmenschen.
„Wenn du sehr alt werden willst, musst du bei Zeiten anfangen,“
sagt ein spanisches Sprichwort.
Wir brauchen wieder die weisen Alten, die dafür sorgen, dass die zukünftige Generation, die jetzt Kind und Jugendlich ist, in einer Weise aufwächst, die im Dialog mit der älter werdenden Generation Anregungen und Antwort findet, die ihr Mut machen, die Welt trotz allen Widerstands zu lieben, weil wir selbst diese Welt sind, mit Sternen und Planeten, mit guten und bösen Geistern. So kann es uns über die Zeit gelingen, nicht mehr nur vor der Welt zu stehen, sondern ein Teil dieser Welt zu sein, indem das Herz im Kopf einmal zum Abbild des Sternenhimmels wird.
„Ich glaube an das Alter, lieber Freund.
Arbeiten und Altwerden, das ist es, was das Leben von uns erwartet. Und dann eines Tages alt sein, und noch lange nicht alles verstehen, nein, aber anfangen, aber lieben, aber ahnen, aber zusammenhängen mit Fernem und Unsagbarem, bis in die Sterne hinein.“ R.M.Rilke
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