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Auf das Neue eingehen lernen
Gedanken zu einem freien Bildungswesen
Interview mit Eugen Riesterer und Lars Grünewald
Wie kann unsere Gesellschaft durch die Impulse der jungen Generation erneuert werden? Bislang ist es so, dass der Staat das Schulleben und die Bildung verordnet. Damit aber bestimmt immer ein Gewordenes über das Werdende. Mit Begriffen aus der Vergangenheit wird das Zukünftige festgelegt, und damit ist eine Entwicklung eigentlich nicht mehr möglich. Als Erzieher muss man aber Kindern gegenüber so offen sein, dass sie das ganz Neue und Unbekannte, was sie mitbringen, entfalten können. „Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen“ – so Rudolf Steiner.
Lars Grünewald und Eugen Riesterer entwickeln aus ihren eigenen Anschauungen und Erfahrungen heraus Überlegungen zu einem freien Schul- und Bildungswesen, das die Bedingungen für eine individuelle Förderung von Menschen schafft.
Interviewpartner:
Eugen Riesterer, Waldorflehrer seit 1979 an der Rudolf Steiner Schule Wandsbek; er hat 4 Klassen geführt und gerade seinen 5. Durchgang begonnen. Er selbst war Schüler in einer Staatsschule; nach seinem Zivildienst absolvierte er am Institut für Waldorfpädagogik in Witten ein fünfjähriges Studium mit Ausbildung zum Klassenlehrer und Eurythmisten.
Lars Grünewald, geb. 1962, Studium der Musikwissenschaften und Erziehungswissenschaften, danach autodidaktisches Philosophiestudium mit den Schwerpunkten Deutscher Idealismus und Anthroposophie. Berufliche Selbständigkeit mit Seminaren und Vorträge in der Erwachsenenbildung zu philosophischen und sozialwissenschaftlichen Themen. Sozialkundeunterricht mit Oberstufenschülern, freie Bildungsarbeit mit Jugendlichen, Seminarleitung auf Lehrertagungen, Arbeit mit Lehrerkollegien, Schulberatung.
Christine Pflug: Was ist Bildung?
Lars Grünewald: Nach meiner Auffassung umfasst Bildung alle diejenigen Tätigkeiten, deren Ziel es ist, Fähigkeiten von Menschen zu entwickeln. Man könnte noch alle Ereignisse und Erlebnisse dazu nehmen, die ebenfalls zur Entwicklung von Fähigkeiten beitragen; aber wenn es um bewusstes menschliches Handeln geht, dann wäre Bildung auf solche Aktivitäten zu begrenzen, die ausdrücklich mit dem Ziel unternommen werden, Fähigkeiten von Menschen auszubilden.
C. P.: Das reicht dann von der Vorschulerziehung, über Kindergärten, Schulen, Universitäten, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung etc.?!
L. Grünewald: Ja, wobei das bereits ganz bestimmte Formen der Bildung sind, nämlich institutionalisierte, in denen Aktivitäten vereinheitlicht werden, um mehrere Menschen daran teilnehmen lassen zu können. Im Prinzip beginnt Bildung spätestens bei der Geburt, weil das Verhalten der Eltern bereits bildenden Charakter hat. Die Frage ist nur, in welchem Ausmaß das eigene Verhalten unbewusst bleibt oder bewusst gesteuert wird.
Erziehung und Bildung
C. P.: Ist alle Erziehung gleichzeitig auch Bildung?
L. Grünewald: Ja, unbedingt; es ist aber eine interessante Frage, ob auch der Umkehrschluss gilt, ob nämlich alle Bildung auch Erziehung ist.
C. P.: Werden Kinder von Erwachsenen erzogen, während Erwachsene sich ab einem gewissen Alter selbst erziehen?
L. Grünewald: Schon, aber auch bei Kindern sind bereits ausgeprägte selbsterzieherische Aktivitäten zu beobachten. Umgekehrt sind auch erwachsene Menschen noch in erheblichem Umfang erziehbar, nicht zuletzt, indem Kinder erzieherisch auf ihre Eltern und Lehrer wirken!
Eugen Riesterer: Der Begriff Bildung enthält das Wort „Bild“ und auch „bilden“ im Sinne von plastizieren. Die anthroposophische Geisteswissenschaft kennt den Begriff „Bildekräfteleib“, der im ersten Jahrsiebt eine starke Gestaltungsrolle bis ins Körperliche hinein spielt. „Bildung“ geschieht in diesem Alter durch die Kräfte der Nachahmung, die gar nichts mit intellektueller Bildung zu tun haben. Man kann die Kinder in diesem Alter nicht mit abstrakten Begriffen oder Ermahnungen verändern, sondern ich als Erwachsener muss mich ändern und dem Kind etwas vorleben, wenn ich beim ihm etwas erreichen will.
C. P.: Es gibt dazu die Geschichte von Gandhi: Eine Mutter kommt mit ihrem Kind zu Gandhi und bittet ihn, dass er ihrem Kind das Naschen verbieten soll. Gandhi fordert die Mutter auf, eine Woche später wieder zu kommen. Das tut sie, und dann sagt Gandhi dem Kind, es solle mit naschen aufhören. Das Kind gewöhnt sich das tatsächlich ab, und die Mutter fragt Gandhi, wie er das denn gemacht hätte, er hätte doch nur kurz mit dem Kind gesprochen. Seine Antwort: „In dieser einen Woche habe ich mir selbst das Naschen abgewöhnt.“
E. Riesterer: An diesem Beispiel sieht man, wie Bildung sehr tief geht und weit über die intellektuelle Ebene hinausreicht.
freies und unfreies Schulwesen
C. P.: Rudolf Steiner hat die Waldorfschulen gegründet mit dem Ziel, ein freies Schulwesen zu ermöglichen. Was hat er damit gewollt, bzw. was ist freie und unfreie Bildung?
L. Grünewald: Bei Kindern, die noch nicht willentlich ihre eigene Erziehung in die Hand nehmen können, hängt die Bildung bzw. Erziehung ganz davon ab, wie andere Menschen auf das Kind wirken. In der Schulpädagogik wirken also die Lehrer auf die Kinder. Jedes Kind bringt seine eigenen, ganz spezifischen Anlagen, Fähigkeiten und Entwicklungsprobleme mit, von denen sich nur derjenige ein Bild machen kann, der erstens unmittelbar diesem Kind gegenübertritt und es über längere Zeit beobachten kann, und der zweitens die Freiheit hat, dann genau so zu reagieren, wie er es aufgrund seiner Einschätzung der jeweiligen Situation für richtig hält. Jemand, der den direkten Kontakt zu dem Kind gar nicht hat und sagt, so oder so müssen Kinder erzogen werden, also z.B. durch behördliche Verordnungen, der macht den Lehrer notwendiger Weise unfrei, weil dieser dann nur noch umzusetzen hat, was ihm von außen als Anweisung vorgegeben wird.
Und deswegen scheint mir, dass die Freiheit des Schulwesens vor allem erfordert, die Erzieher von pädagogischen Vorgaben frei zu machen, so dass es ihnen möglich ist, unmittelbar auf ihr Gegenüber einzugehen. Daran schließt sich natürlich die Frage nach der Fähigkeit des einzelnen Lehrers, inwieweit er dazu überhaupt in der Lage ist, ob er dafür gezielt ausgebildet wurde, ob er das Talent, die Übung hat etc. Das sind alles wesentliche Fragen der Lehrerbildung.
Wenn ich mich auf das Wesen eines Kindes wirklich einlassen will, dann muss ich mich mit meinen Vorstellungs-Gewohnheiten ganz zurücknehmen, um offen sein zu können für neue Handlungsideen, weil ja jedes Kind etwas mitbringt, was vorher noch nie da gewesen ist. Und in dieser Situation steht man als Erzieher: Ich kann nicht nur auf Gewordenes zurückgreifen, sondern ich brauche die Offenheit, dass mir ein Wesen entgegenkommt, das vielleicht etwas ganz Neues von mir erwartet. Diese Beobachtungsfähigkeit zu schulen ist meines Erachtens eine wichtige Voraussetzung, die in der Lehrerbildung geschaffen werden muss. Weil diese Freiheit, auf ein Kind einzugehen, nicht bedeutet, dass man beliebig irgendetwas macht – beispielsweise weil man bestimmte Rezepte oder Reaktionsmuster hat – sondern es braucht einen geschulten Blick dafür, was im Kind veranlagt ist.
ein Dilemma
C. P.: Das sind alles wunderbare Ideale. Wie sieht aber die Realität in den Rudolf Steiner Schulen aus, wenn die Kinder bestimmte Abschlüsse, Abitur, Hochschulreife etc. erreichen müssen? Wie passen die von Ihnen beschriebenen Ideale zusammen mit dem, was vom Staat verlangt wird?
E. Riesterer: Das ist sicherlich ein Dilemma. Welchen Schwerpunkt setzt man in der Schule? Versucht man den staatlichen Gegebenheiten Rechnung zu tragen und vergisst dabei die Idee der freien Schule? Als ich Waldorflehrer wurde, hatte ich den Eindruck, so ein Abitur an der Waldorfschule ist ein Kompromiss; und Kompromisse sind dazu da, dass man sie durch offensive Öffentlichkeitsarbeit auf Dauer abschafft. Aber ich merkte bald, dass viele Kompromisse in der Waldorfbewegung schnell als wesentlicher Bestandteil gesehen und nicht mehr hinterfragt werden. Es gibt eine Tendenz, dass der institutionelle Charakter einer Waldorfschule immer mehr betont wird; wir „Waldorfs“ liebäugeln gern mit staatlichen Modellen, und wir setzen dem keine energische Begeisterung für ein freies Schulwesen entgegen. Ein Beispiel dafür ist die Profiloberstufe, die sich ganz am staatlichen Konzept orientiert. An die Stelle der Förderung der Entwicklung des einzelnen Schülers tritt die Konzentration auf eine scheinbar objektive Note. Damit ist der Lehrer aus der eigenen Verantwortung herausgenommen, weil es ja gilt, einen Schüler nach letztlich ganz abstrakten Kriterien zu beurteilen. Und wenn die Note nicht stimmt, wird die schulische Laufbahn des Schülers beendet, womit das ganze Waldorfkonzept natürlich zur Farce wird.
C. P.: Worin besteht denn dann die Alternative, die die Waldorfschule anzubieten hat?
E. Riesterer: Wir ergänzen die intellektuelle durch künstlerische und handwerkliche Bildung, wodurch das Gefühl und der Wille so gestärkt werden, dass die Schüler dann auch später die Anforderungen der Gesellschaft meistern können. „Anforderungen“ bedeutet aber auch, dass die Gesellschaft Kriterien formuliert, was unter Bildung zu verstehen ist -das wiederum zeigt, dass wir ein unfreies Bildungswesen haben. Auch die Eltern geben den Druck der Wirtschaft nicht selten verstärkt an Kind und Schule weiter, ohne sich zu fragen, ob das dem Kind gegenüber zu verantworten ist.
C. P.: Wie sollte eine Gesellschaft beschaffen sein, in der ein freies Schulwesen möglich ist?
E. Riesterer: Zunächst müsste sie (d.h. insbesondere Staat und Wirtschaft) sich aus dem Bildungswesen vollkommen heraushalten. Rudolf Steiner hatte dazu ganz radikale Ansichten: „Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen.“ (GA 24: Freie Schule und Dreigliederung). So lange Wirtschaft und Staat das Schulleben und die Bildung verordnen, bestimmt immer ein Gewordenes über das Werdende. Dieses Gewordene kann dann nur aus den Begriffen der Vergangenheit heraus das Werdende bestimmen, und damit ist eine Entwicklung eigentlich nicht mehr möglich, wie sich in der weitgehenden Stagnation des öffentlichen Lebens und in fehlgeleiteten Einzelbiografien zeigt. Doch eine solcherart freie Entwicklung ist der Kerngedanke eines freien Schulwesens.
C. P.: Das meint, dass im jetzigen System keine neuen Impulse in die Gesellschaft kommen?
E. Riesterer: Wenn es um wirklich Neues geht, unbedingt; das ist nicht einmal erwünscht. Und auch für den Schüler gilt, dass er einen ungeheuren Kraftaufwand für Dinge aufwenden muss, die vielleicht gar nicht in den biographischen Intentionen, die er mitbringt, liegen.
die Gesellschaft soll darauf warten, welche Menschen aus so einem freien Schulwesen auf sie zukommen
Die Gesellschaft ist in der gleichen Situation wie der Lehrer und die Eltern, dass sie das Neue, was der Schüler bringt, wahrnehmen lernen muss. Wenn ein Kind z.B. spirituelle Anlagen zeigt: Wie kann ich solche Anlagen davor schützen, an unseren herkömmlichen Vorstellungen gemessen zu werden? Möglicherweise können solche Anlagen ja zu neuen Ideen und Initiativen für die Gestaltung unseres Rechts- oder Wirtschaftssystems führen. Steiner sagt dazu, dass die Gesellschaft darauf warten soll, welche Menschen aus so einem freien Schulwesen auf sie zukommen und sie ggf. allmählich umgestalten.
C. P.: Wie könnte man sich so eine „freie Bildung“, die es im Moment gar nicht gibt, vorstellen – oder zumindest Elemente davon?
L. Grünewald: Die Abschlüsse, die vom Staat verordnet werden, verhindern eine freie Bildung, weil sich der gesamte Erziehungsprozess auf sie hin orientieren muss. Die Profiloberstufe ist ein Beispiel dafür, dass man zwei Jahre lang einen Weg geht, der linear auf die Abschlüsse ausgerichtet ist. Der Weg dahin ist dann nicht mehr frei, sondern verbindlich vorgegeben.
wie der einzelne Mensch jeweils Anschluss an die Gesellschaft gewinnen kann
Das führt in der Konsequenz dazu, dass ein freies Bildungswesen von der Idee allgemein verordneter Abschlüsse Abstand nehmen muss. Statt dessen müsste gefragt werden, wie der einzelne Mensch jeweils Anschluss an die Gesellschaft gewinnen kann, um dort einen Platz zu finden, von dem aus er sich dann weiterentwickeln kann, denn es geht ja nicht darum, ihn für den Rest seines Lebens an eine Stelle zu bringen, auch wenn unser bisheriges Ausbildungswesen das so suggeriert. Die Entwicklung des Arbeitslebens zeigt aber, das jemand mit einer derart geringen Flexibilität sich in der Regel gerade nicht über Wasser halten kann. Jeder Einzelne bedarf eigentlich einer individuellen Unterstützung, um die ersten Schritte weg von der Familie und Schule in die Gesellschaft hinein gehen zu können, und keines formalisierten Abschlusses.
C. P.: Wie könnte man diese Individualisierung praktisch durchführen?
L. Grünewald: Ich glaube, dass gerade in der Oberstufe die betreuenden Pädagogen durch Gespräche mit den Schülern zu sinnvollen Einschätzungen kommen können. Welche Vorstellungen hat ein Jugendlicher von seiner eigenen Zukunft? Es ist nun zwar nicht die Aufgabe eines Lehrers, diese Vorstellungen unhinterfragt zu übernehmen, denn er kommt ja aufgrund seines pädagogischen Urteilsvermögens vielleicht zu der Einschätzung, dass sie nicht realistisch sind. Aus der Zusammenschau der Wünsche des Schülers mit der Einschätzung des Lehrers, der ja den Schüler eine längere Zeit in seiner Entwicklung begleitet hat, kann sich dann ein Bild ergeben, was der richtige Weg sein könnte. Von dort aus müssten in einem weiteren Schritt konkrete Maßnahmen erwogen werden, wie sich die Umsetzung einer solchen Perspektive beginnen ließe. Wäre es beispielsweise sinnvoll, ein Praktikum in einer bestimmten Richtung zu machen? Wie können die Erlebnisse aus dem Praktikum so verarbeitet werden, dass sie zu weiteren Konsequenzen führen? Grundsätzlich geht es immer um ein Wechselspiel zwischen Reflexion, die zu bestimmten Entschlüssen führt, und Erfahrungen, die innerhalb oder auch außerhalb der Schule gemacht werden können und dann wiederum reflektiert werden müssen, um zu neuen Entschlüssen zu führen.
Die Schule muss sich auf jeden Fall – was in den Waldorfschulen durch zahlreiche Praktika auch schon veranlagt ist – öffnen; sie darf nicht davon ausgehen, dass die entscheidenden Bildungserlebnisse alle innerhalb des festen Rahmens der Schule stattfinden. Für den Schüler ist das eine allmähliche Orientierung von der Schule weg nach außen, mit der Chance, wieder zurückzukommen und die gemachten Erfahrungen zusammen mit Lehrern und Mitschülern zu reflektieren.
E. Riesterer: Je älter ein Schüler wird, umso mehr findet eine Individualisierung statt. Man müsste fragen: Was braucht er noch an Zeit um zu reifen, während ein anderer längst seinen Weg in die Gesellschaft gefunden hat.
neben einem Grundangebot Übergänge zur gesellschaftlichen Situation schaffen
Ein allgemeiner Abschluss mit der 11. oder 12. Klasse entspricht dem individuellen Stand der Schüler nicht mehr, sondern die Schule hätte mehr die Aufgabe, neben einem Grundangebot Übergänge zur gesellschaftlichen Situation zu schaffen, aus denen der Schüler zurückkommen könnte, um sich ggf. weitere Beratung und Unterstützung zu holen.
C. P.: Das würde aber bedeuten, dass das gesamte gesellschaftliche Umfeld auch Veränderungsschritte betreiben müsste?!
E. Riesterer: Innerhalb des heutigen Bildungssystems wäre es nötig, Freiräume zu schaffen. Das wird aber nur gelingen, wenn bei den Erziehenden die Begeisterung für ein freies Schulwesen entsteht, die man offensiv hinausträgt und zur Herzenssache macht. Steiner weist eindringlich darauf hin, dass davon die Existenz der Waldorfbewegung abhängt, ja dass ohne diese Bedingung ihre Gründung hinfällig gewesen wäre. Denn je mehr wir auf diesem Gebiet zurückweichen, desto mehr werden uns die institutionellen Anforderungen von außen erdrücken.
C. P.: Wie müssten Lehrer für so eine freie Schule ausgebildet werden? Welche Fähigkeiten brauchen sie?
L. Grünewald: Auf jeden Fall dürfte die Fachlehrerausbildung nicht den Ausgangspunkt darstellen. Das würde gleich zu einer Spezialisierung führen und den Unterrichtsbetrieb zu stark auf die jeweils behandelten Sachthemen fokussieren. Den Ausgangspunkt der Lehrerbildung müsste die Idee der freien Schule bilden, d. h. es ginge darum, präzise Vorstellungen zu entwickeln, was damit eigentlich gemeint ist. Aus diesem ersten Schritt ergäben sich ja zahlreiche Konsequenzen für die Unterrichtsgestaltung.
Der zweite Punkt ist, dass sich dieser Gedanke des freien Schulwesens in der Art und Weise niederschlagen müsste, wie eine Schule verwaltet wird, wie die Lehrer miteinander umgehen, wie sich die Lehrer nach außen gegenüber den Eltern und der Öffentlichkeit darstellen usw.
sich selber an der Organisation und Selbstverwaltung einer Schule beteiligen
C. P.: Wieso ist das in diesem Kontext wichtig?
L. Grünewald: Wenn eine Schule nicht mehr vom Staat reguliert wird, dann muss sie in ihrer Selbstverwaltung entscheiden, wie sie sich strukturiert, welche Formen sie schafft und wie sie sich nach außen darstellt. Wenn aber diese Strukturen freie Bildungsprozesse verhindern, wie das nicht selten der Fall ist, dann ist eine Umsetzung der Idee einer freien Schule in die Praxis nicht mehr möglich. Daher müsste die Ausbildung der Fähigkeit, sich selber an der Organisation und Selbstverwaltung einer Schule zu beteiligen, zu einem integralen Bestandteil der Lehrerausbildung werden.
„Mumpitz“
E. Riesterer: Dazu gehört auch die Auswahl neuer Kollegen. Hier dürfen nur die Kriterien eines Kollegiums entscheiden, niemals staatliche Vorgaben. Staatlich genormte Bedingungen, die sich meist auf einen dogmatisch festgelegten Wissenschaftsbegriff berufen, beeinträchtigen den Schulbetrieb einer freien Schule aber erheblich. Und es ist fatal, wenn wir Menschen, die in ihrer ganzen kreativen und originellen Art zu uns passen, nicht einstellen dürfen, weil ihnen staatliche Abschlüsse fehlen. Das nimmt zu und gefährdet eine freie Schule existentiell. Zudem höhlt es das Recht auf freie Schulen aus. Dagegen muss gerade von Waldorfschulen offensiv vorgegangen werden. Steiner meint, dass eine Waldorfschule mit „geprüften Lehrern“ ein Unding sei und nennt das wörtlich „Mumpitz“.
L. Grünewald: Heute herrscht zumeist noch die Vorstellung, dass eine Schule eine geschlossene Einrichtung ist, in der das Kollegium als Ganzes darüber entscheidet, wer in diese Institution hinein darf. Das ist aber unzeitgemäß; vielmehr wäre es wichtig, offene institutionelle Strukturen zu entwickeln, in denen es einen relativ festen Kern mit einer nach außen – d.h. in die Gesellschaft hinein – offenen Peripherie gibt. Wenn eine solche Öffnung nicht besteht, schneidet sich eine Einrichtung von der Gesellschaft ab und auch von Talenten, die gerne mitarbeiten würden, ohne dass sie gleich eine feste Anstellung anstreben. Diese Neuen können sich natürlich nicht gleich in der Mitte platzieren und selbst Beschlüsse fassen, aber es sollte eine gewisse Fluktuation stattfinden einerseits zwischen dem Zentrum und der Peripherie und andererseits zwischen der Peripherie und der umgrenzenden Gesellschaft. Das würde eine größere Lebensnähe und eine lebendigere Entwicklungsdynamik ermöglichen.
E. Riesterer: Aus so einem „offenen Austausch“ wäre dann auch ein organisches Hineinwachsen einzelner Menschen in ein Kollegium ganz anders möglich als durch ein kurzes Aufnahmegespräch.
staatlich verordnete Muße
C. P.: Welche weiteren Fähigkeiten bräuchte ein Lehrer?
E. Riesterer: Es gibt noch den wichtigen Faktor Zeit: Jeder Unterrichtende hat für den Unterricht nur so viel Zeit aufzuwenden, dass er auch ein Verwaltender auf seinem Gebiet sein kann – so Rudolf Steiner. Auch weist er darauf hin, dass die Muße ein wichtiges Element ist – diese will er sogar staatlich verordnet sehen, weil er es als eine Rechtsfrage ansieht: man darf nicht mit seinen ganzen Kräften in einem Beruf untergehen, sondern man hat das Recht auf Muße, „weil sie das Verständnis für geistige Güter weckt.“ Und wenn wir unseren Stressbetrieb, nicht nur in Waldorfschulen, anschauen, können wir sehen, dass nirgendwo ein „Verständnis für geistige Güter“ geweckt werden kann, was natürlich auch die Möglichkeit der Ausbildung von Fähigkeiten beeinträchtigt.
Es fehlt ja oft schon der Wille und das Bewusstsein, um so einen Freiraum zu schaffen, in dem man Intuitionen und Inspirationen bekommen kann!
Ich kann keine fertigen Modelle anbieten, aber ich kann durch Fragen zum Schaffen von Freiräumen ermutigen, z.B.: Wie viel Zeit braucht Ihr für die pädagogische Arbeit, wie viel innerer Raum ist für den einzelnen Lehrer notwendig – er wird bei jedem verschieden sein – um sich inspirieren zu lassen? Ich weiß, dass es nicht leicht ist, diese Frage in einer arbeitsorientierten Gesellschaft ehrlich zu beantworten, darum will ich mal ermuntern: vielleicht die Hälfte der jetzigen Wochenstunden? Steiner spricht gar von 12 Wochenstunden, das sei mit Vorbereitung ein 8-Stunden-Tag.
C. P.: Und wie sollte das alles finanziert werden?
E. Riesterer: Mit etwas Taschengeld aus den Euro-Rettungsfonds beispielsweise wären noch ganz andere Perspektiven möglich, nicht nur für ein freies Schulwesen! Geld ist jedenfalls genug da, es ist nur falsch verteilt. Wir müssen Gelder umlenken, d. h. wir müssen das fordern; es wird uns nicht geschenkt werden.
Erziehung zur Moralität
C. P.: Wie und wo entsteht in der Bildung Moralität, besonders in dem Sinne, dass man gesellschaftlich Verantwortung übernimmt?
L. Grünewald: Ich würde Moralität und Verantwortung keineswegs gleich setzen, denn jeder politische Mandatsträger übernimmt Verantwortung. Man kann aber durch das Übernehmen von Verantwortung ein Land auch in den Abgrund führen.
In Richtung dessen, was Steiner dazu ausführt, bedeutet Moralität die Fähigkeit, bewusst unterschiedliche Faktoren zu harmonisieren, und zwar nicht auf Kosten einzelner Menschen oder Menschengruppen. Es geht darum, einen Ausgleich zwischen konkurrierenden Bedürfnissen herzustellen und jedem einzelnen – und damit auch der Gesamtheit – in möglichst hohem Maße gerecht zu werden.
Aus dieser Auffassung von Moralität würde sich dann die Frage ergeben: Wie kann ein Mensch lernen, das Ganze in den Blick zu bekommen? Wie kann jemand lernen, andere Interessen zu erkennen und zu berücksichtigen, aber gleichzeitig auch den eigenen Intentionen gerecht zu werden? Wenn es nämlich bei der Moralität um das Wohlergehen und die Harmonie des Ganzen geht, dann kann sie nicht bedeuten, sich selber einseitig zu Gunsten anderer zu opfern.
Aus diesem Konzept der „Harmonisierung des Ganzen“ würde sich ein recht komplexes Ausbildungsfeld ableiten, dessen einzelne Komponenten natürlich näher erörtert werden müssten…
Oberstufenschüler bemerken sehr wach und kritisch, ob die Verhältnisse in der Institution „moralisch“ sind
Von hier aus ergibt sich wiederum eine direkte Verbindung zur Pädagogik: Welche Erfahrungen macht das Kind und der Jugendliche in seinem Umfeld? Es geht zunächst weniger darum, über Moralität nachzudenken, sondern von dem Lehrer und der eigenen Umgebung ein bestimmtes Verhalten vorgelebt zu bekommen. Und gerade Oberstufenschüler bemerken sehr wach und kritisch, ob die Verhältnisse in der Institution „moralisch“ sind, d. h. wie beispielsweise Konflikte geregelt werden. Idealer Weise würde eine Schulverwaltung vormachen, was Moralität ist; und es ist sicherlich besser, solche Prozesse zunächst im Konkreten zu üben, anstatt irgendwelche Forderungen darüber aufzustellen, wie die Gesellschaft sein sollte.
Am 4. September wird Lars Grünewald in der Forum-Initiative ein neues Bildungsprojekt mit dem Titel „Selbstorganisierte Bildung“ vorstellen (Beginn 19.00 Uhr, s. Veranstaltungshinweise). Näheres hierzu unter www.selbstorganisierte-bildung.de.
Eine von ihm verfasste Broschüre zum Thema „Schule ohne Abschluss“ (Umfang 52 Seiten) ist zum Preis von 6,- zzgl. Versandkosten über die e-mail-Adresse bestellbar.